Katharina Barth – Squadrone dei ferri da maglia – Stricknadelgeschwader

Kapitel 1
Margarete entstieg der Limousine, blickte erwartungsvoll zum Eingang und ärgerte sich augenblicklich, dort niemanden vom Personal zu ihrem Empfang vorzufinden. Nahezu ihr letztes Geld war für den Wagen nebst Chauffeur, der sie von Zürich hierhergebracht hatte, draufgegangen. Sie konnte nur darauf hoffen, schnellstmöglich einen vermögenden Herrn kennen zu lernen, der ihrem Charme erlegen und ihre Auslagen übernehmen würde. Als Operndiva lag ihr einst die Welt zu Füßen, die Häuser überschütteten sie geradezu mit Angeboten, ihr Telefon stand kaum still, ständig versuchte ihre Agentur sie zu weiteren Auftritten zu animieren. Dabei fühlte sie sich leer und ausgepumpt, war des ewigen Reisens, der Flughäfen und Hotelzimmer, wie nobel diese auch ausgestattet waren, müde. Sie fühlte nur noch Leere in sich. Dieses Sanatorium am Bodensee war ihr Rückzugsort, hier wollte sie Kraft tanken, zur Ruhe kommen, ihr Leben neu ordnen. Aber dazu brauchte sie vor allem eines, Geld, Geld das sie nicht hatte. Warum wusste sie nicht, vielmehr wollte sie es nicht wissen. Sie war schon immer gut darin gewesen, Unangenehmes zu verdrängen. Ihr Leben hatte schön zu sein, etwas anderes kam für sie nicht infrage. Womit sie die Schönheit finanzierte war zweitrangig, schließlich war sie eine gefeierte Opernsängerin, eine Diva. Diven brauchten sich um solche Nichtigkeiten wie Geld nicht zu kümmern. Dazu hatten sie ihre Manager, die oftmals gleichzeitig ihre Ehemänner waren. Wie oft war sie verheiratet gewesen? Viermal, fünfmal? Margarete mochte sich nicht daran erinnern, denn die Erinnerung kostete Kraft, und ihre Kraft würde sie brauchen, um den Erstbesten, der nach Geld aussah, zu bezirzen.
Schwester Marta hatte gerade noch genügend Zeit, den Flachmann verschwinden zu lassen, bevor die Tür zu ihrem Büro geöffnet wurde. Wer immer es war, die Person hatte nach dem Anklopfen nicht auf ein Herein gewartet. Unwirsch sah sie auf und blickte zur Tür, in der eine Patientin stand, an deren Namen sie sich nicht erinnern konnte.
»Was kann ich für Sie tun, Frau …«, der Rest der Ansprache ging in einem vorgetäuschten Husten unter, eine ihrer Angewohnheiten, mit der sie diese kleinen Mängel, Ausdruck ihrer zunehmenden Alkoholabhängigkeit, überspielte.
»Sie haben mich doch rufen lassen«, erwiderte die Angesprochene, sichtlich ratlos, warum Schwester Marta ihr eine solche Frage stellte.
»Frau Hufnagel«, Martas Gedächtnis hatte sie doch noch nicht ganz im Stich gelassen, »ich habe Sie nicht rufen lassen. Wer hat Ihnen das denn gesagt«?
Der ratlose Gesichtsausdruck sprach Bände. Die Dame Hufnagel stand derart unter Dope, sodass man mit ihr nicht reden konnte. In diesem Zustand wusste sie weder wer, noch wo sie war. Das waren Martas liebsten Patienten. Sie machten wenig Arbeit, man musste sie nur mit etwas beschäftigen. Wozu hatte man Praktikanten, männliche wie weibliche, wenn nicht, um sie dazu einzusetzen, das Klientel zu unterhalten?
»Kommen Sie, Frau Hufnagel, ich bringe sie zurück zu ihrer Gruppe«, sanft nahm Marta ihre Besucherin am Arm und führte sie aus ihrem Büro, welches sie sorgsam verschloss, bevor sie die Verwirrte in den Garten führte.
Mittlerweile hatte der Chauffeur Margaretes Gepäck entladen und am Fuß der Treppe abgestellt. Sein Auftrag lautete, die Dame zu dem Sanatorium zu bringen, mehr nicht.
Ein letzter Blick in den Fond der Limousine, um sich zu überzeugen, dass seine Passagierin auch nichts liegen gelassen hatte, ein »Alles Gute für Sie, Frau Sollheimer«, mit der Erwartung, ein Trinkgeld zu erhalten, aber außer einem gehauchten »Danke» und einem huldvollen Nicken gab es nichts, Warten wäre verlorene Zeit gewesen. Die Räder des wegfahrenden Wagens hinterließen ein knirschendes Geräusch auf dem Kies, das Einzige, was das laute Vogelgezwitscher störte.
Margarete blickte dem Wagen hinterher, immer noch darauf wartend, dass die Tür sich öffnen, und das Personal zu ihrem Empfang Aufstellung nehmen würde.
Dr. Müller-Thurgau war genervt. Die Gruppe, die er gerade leitete war durchsetzt von Querulanten. So etwas mochte er überhaupt nicht. Alles stellten sie in Frage, anstatt demutsvoll zuzuhören, um etwas aus den Erfahrungen ihrer Mitpatienten zu lernen.
Vor allem dieser aufgeblasene Dr. Hohenems, seines Zeichens Aufsichtsratsvorsitzender einer bedeutenden Maschinenfabrik in Winterthur, quasselte ständig dazwischen. Dabei wurde er von zwei weiteren Patienten zunehmend unterstützt, einer Pensionats-Direktorin vom Genfer See und einem hochrangigem Militär aus der Innerschweiz.
Letzterer hatte ähnlich narzisstische Züge wie er selbst, und so befürchtete er stets, dass dieser ihn bei einer der zweimal wöchentlich stattfindenden Therapieeinheiten lächerlich machen könnte. Bei Personen vom schweizerischen Militär wusste man nie, zu was sie fähig waren, vor allem, wenn sie eine Ausbildung beim Auslandsgeheimdienst genossen hatten.
Etwas Recherche im Internet würde genügen, um festzustellen, dass er Urs Müller hieß, und sich den Thurgau, den Mädchennamen seiner Frau, nach ihrer Hochzeit, einfach an seinen doch eher schlichten Müller angehängt hatte.
Ein Vorfahre seiner Frau war es gewesen, der die gleichnamige Rebsorte 1882 in der Forschungsanstalt Geisenheim im Rheingau gezüchtet hatte.
Elvira, seine Frau war Önologin, ihr lag das Erbe im Blut. Mit großem Erfolg baute sie auf dem familieneigenen Weingut ihren Rebensaft aus und heimste Jahr für Jahr Gold und Silbermedaillen bei nahezu allen Weinprämierungen ein. Dabei stand sie in Konkurrenz zu ihrem zwei Jahre älterem Bruder, der als Mitinhaber das elterliche Weingut in Wädenswil führte. Obwohl sie den besseren Wein produzierte, war er es gewesen, den die Eltern mit der Leitung des Betriebes betraut hatten, als sie sich aufs Altenteil zurückzogen.
Dr. Müller-Thurgaus Ehe bestand seit Jahren nur noch auf dem Papier. Elvira hatte schon kurz nach der Hochzeit festgestellt, dass sie einen Blender geheiratet hatte. Während er sich voll auf sein Karriere konzentrierte, die im Wesentlichen darin bestand, jedem der ihm auf dem Weg nach oben hilfreich sein konnte, nach dem Mund zu reden, hatte sie neben ihrem Vollzeitjob zwei Kinder geboren und erzogen.
Scheidung kam nicht in Frage, dazu war sie zu christlich erzogen. Nach außen hin spielte man die glückliche Familie, aber hinter den Gardinen gab es nur mehr gegenseitige Verachtung, die der Kinder wegen auf eine sehr subtile Art zum Ausdruck gebracht wurde. Diese hatten längst mitbekommen, wie es um die Zweisamkeit ihrer Eltern stand, und spielten das Familienspiel auf ihre Art.
Lange schon hatte Urs mit dem Gedanken gespielt, sich eine Geliebte zu nehmen, aber was ihn davon abhielt waren die damit unweigerlich verbundenen Komplikationen. So begnügte er sich mit gelegentlichen One-Night-Stands und regelmäßigen Besuchen eines Zürcher Swinger-Clubs.
Klara saß im Wintergarten und versuchte sich auf ihre Strickerei zu konzentrieren. Sie hasste Handarbeiten, hatte sie schon immer gehasst, schon in der Schule waren sie ihr ein Gräuel gewesen. Da aber alle Damen strickten, und man ihr zudem tagelang in den Ohren gelegen war, sich im nahen Romanshorn Wolle und Nadeln zu besorgen, hatte sie sich ihrem Schicksal ergeben.
Wortführend war Clarissa von der Thann, die nach eigenem Bekunden schon zum sechsten Mal Gast dieser Einrichtung war und den Laden im Griff hatte, wie sie zu sagen pflegte. Ob sie damit das Stricknadelgeschwader meinte, oder aber die Station, wusste niemand. Aus Ehrfurcht sowohl vor dem Namen als auch der Tatsache, dass die Ärmste derart leidend war, dass ein sechster Aufenthalt sich unumgänglich zeigte, ließ man sie gewähren. Bei Therapeuten und Pflegern war sie hochbeliebt, hatten sie in ihr die Informantin, von der sie etwas erfuhren, was die anderen Patienten nicht erzählten, weder bei ihren Einzelgesprächen noch in einer der zahlreichen Gruppentherapien.
Clarissas Angewohnheit, Dinge, die ihr gefielen einfach einzustecken, sah man ihr großzügig nach, wusste man doch wo man diese wiederfand. Frau von der Thann war nicht nachtragend, sofern Vasen und andere Dekoartikel schließlich wieder an ihren angestammten Plätzen standen.
Die Klinik war groß, das Gelände weitläufig, immer wieder fielen Clarissa Dinge ins Auge, die sie unbedingt besitzen musste, wenn es auch manches Mal nur für kurze Zeit war. Dabei hatte sie es bei Gott nicht nötig zu stehlen, sie verfügte über ein immenses Vermögen, angehäuft von den Vorfahren ihrer Ehemänner, von denen sie bereits zwei auf deren letzten Wegen begleitet hatte. Ehemann Nummer Drei mache in Finanzen, pflegte sie zu sagen, wenn einer sie danach fragte, ohne genauer zu erklären, was darunter zu verstehen war.

Kapitel 2
Gottlieb war es, der Margarete entdeckte, als er von seinem morgendlichen Spaziergang zurückkam. Er war schon seit längerer Zeit in der Klinik und fühlte sich dort sicher und geborgen. Teil seiner Therapie war es, das Gelände zu verlassen, und sich dabei immer weiter von der Klinik zu entfernen. Je nachdem wie seine Nacht verlaufen war, gelang ihm dies besser oder schlechter. Gottlieb hatte den Überfall auf seine Schule und das Massaker an den Kindern bislang nicht aus seinem Gedächtnis verbannen können. Nahezu jede Nacht erlebte er in seinen Träumen erneut diese Grausamkeit.
Gottliebs Krankheitsbild stellte Dr. Müller-Thurgau vor ein Dilemma, musste er doch als verantwortlicher Direktor entscheiden, was wichtiger war, die Genesung des Patienten oder die Wirtschaftlichkeit der notwendigen Therapie. Das Rote Kreuz, als dessen Arbeitgeber, hatte zwar in Aussicht gestellt, anfällige Kosten, die von der Krankenversicherung nicht gedeckt waren, zu übernehmen, was aber noch lange nicht hieß, dass sie am Ende auch zahlen würden. Der Aufenthalt in seinem Sanatorium, wie die psychosomatische Klinik in ihren Hochglanzprospekten genannt wurde, konnte leicht eine mittlere fünfstellige Summe kosten.
Gottlieb hatte Margaretes Gepäck hineingeschleppt und eine der zahlreichen Praktikantinnen, die ihm gerade über den Weg lief, darauf aufmerksam gemacht, dass draußen eine Patientin wartete.
Praktikantin Ursi hatte eine, in ihren Augen, völlig verwirrte Frau vorgefunden, die ihr klarzumachen versuchte, dass sie sich nicht von der Stelle rühren würde, bis das gesamte Personal Aufstellung genommen habe und der Direktor dieser Einrichtung sie höchstpersönlich zu ihren Räumlichkeiten geleite.
»Wissen Sie überhaupt, wer ich bin«, hatte Margarete Sollheimer konsterniert gefragt, und ohne eine Antwort zu erwarten fortgefahren: »Ich bin Margarete Sollheimer, DIE Sollheimer, man kennt mich, ich bin an allen Opernhäuser der Welt engagiert…«
»Und ich bin Lady Di«, hatte Ursi geknurrt, Margaretes Arm ergriffen und versucht, diese in Richtung Eingang zu bugsieren.
»Fassen Sie mich nicht an«, hatte Margarete gebrüllt und sich losgerissen.
Ursi, gerade mal zwei Tage im Praktikum, war davon völlig überrumpelt, kein Wunder, war es doch das erste Mal, dass sie sich in einer solchen Situation befand. Bislang war sie stets in Begleitung einer der Pflegerinnen Patienten gegenübergestanden. Was sollte sie tun? Da fiel ihr der Piepser ein, den sie, wie alle Angestellten stets bei sich tragen musste. Dieses kleine Teil verfügte über einen Alarmknopf, mit dem sie Hilfe herbeirufen konnte. Ohne die offenbar völlig durchgedrehte Operndiva aus den Augen zu lassen, fummelte sie in der Tasche ihrer Jeans und lächelte, als sie endlich den sie rettenden Notknopf fand.
Unmittelbar kamen mehrere Pfleger, und noch ehe Margarete ahnen konnte, was mit ihr geschehen würde, hatte einer ihr auch schon eine Spritze verpasst, deren Wirkung einige Stunden anhielt. Als sie am späten Nachmittag in einem ihr fremden Bett und einer noch fremderen Umgebung zu sich kam, war sie immer noch nicht in der Lage, sich darüber aufzuregen, geschweige denn, in irgendeiner Form dagegen zu protestieren.
Clara von der Thann und Dr. Hohenems hatten sich nach der Gruppentherapie zur Nachbesprechung in die Cafeteria, bei Kaffee und Kuchen, zurückgezogen.
»Was bildet sich dieser Müller-Thurgau ein…», ereiferte sich Clara und blickte um Zustimmung heischend von ihrem Café Creme zu Dr. Hohenems auf, den sie sich immer noch nicht mit Johannes anzusprechen traute.
»Ganz ruhig, meine Liebe«, beeilte sich dieser ihren Redefluss abzumildern, wusste er doch aus vorangegangenen Nachbesprechungen was unweigerlich kommen würde.
Müller-Thurgau hatte mild lächelnd den Finger in Claras Wunde gelegt und so lange gebohrt, bis ihr Tränen in den Augen standen und sie nahezu die ganze Schachtel Papiertaschentücher verbrauchte, die zu diesem Zweck zahlreich auf allen Tischen verteilt waren. Ein diabolisches Grinsen hatte Müller-Thurgau im Gesicht gestanden, während er Wort für Wort den Stachel immer tiefer in Claras Seele gebohrt hatte. Mit einer Schwarzen Witwe hatte er sie verglichen und den baldigen Tod des Ehemannes Nummer Drei vorhergesagt, kurzum Clara so dargestellt, als bestünde der einzige Sinn und Zweck ihres Lebens darin, reiche Ehemänner zu beerben.
»… ein Scheusal, wie es im Buche steht«, setzte Clara ihr Lamento fort, wobei sie aufgrund des vollen Mundes kaum zu verstehen war. Wenn sie aufgeregt war, vergaß sie schon mal die guten Sitten, wer konnte ihr das verdenken, wo man ihr doch so übel mitspielte.
»Nun lass dich doch nicht so provozieren, damit erreicht er doch genau das, was er will. Du musst cool bleiben, darfst keine Regungen zeigen…«, beeilte sich Johannes, das Wort wieder an sich zu bringen.
Schwester Marta legte den Hörer auf. Das war die Schulleitung gewesen, die sie wieder einmal über das Fernbleiben Kevins vom Unterricht informiert hatte. Seit Tagen wäre ihr Sohn bereits nicht im Unterricht erschienen, hatte die Direktorin gesagt. Ihr Sohn steckte in Schwierigkeiten, das wusste sie, aber sie wusste nicht, wie sie ihm helfen konnte. Kevins Erzeuger hatte sich, sobald er erfuhr, dass er Vaterfreuden entgegenblickte, aus dem Staub gemacht und hätte vermutlich nicht einmal Alimente gezahlt, wenn Clara das Jugendamt nicht eingeschaltet hätte. Bis Kevin von der Grundschule aufs Gymnasium gewechselt hatte, waren sie ein Herz und eine Seele gewesen. Erst mit dem Schulwechsel und dem Einsetzen der Pubertät war Kevin zunehmend schwieriger geworden. Mittlerweile hatte sie die Befürchtung, bei der Erziehung total versagt zu haben. Kevin ließ sich nichts mehr sagen, hing mit zwielichtigen Typen herum, rauchte nicht nur Zigaretten, wie Clara zu Recht vermutete und ließ sich zu jedem Blödsinn verführen. Mit seinen gerade mal fünfzehn Jahren hatte er bereits mehr Sozialstunden ableisten müssen als manch anderer. Claras Neven vibrierten, sie brauchte dringend etwas zur Beruhigung. Sie wusste, dass ein Schluck aus der Pulle nicht genügen würde. Sie brauchte etwas Stärkeres, und sie wusste auch, wo sie es bekommen könnte.
Margarete legte die Stirn in Falten, so wie sie es schon immer getan hatte, wenn ihr etwas nicht passte. Schwester Marta hatte sie in ein gewöhnliches Zimmer geführt, dabei hatte sie bei der Reservierung ausdrücklich darum gebeten, in der Fürstensuite untergebracht zu werden. Als sie darauf hinwies, bekam sie von der unfreundlichen Schwester in knappen Worten mitgeteilt, dass es eine solche Suite nicht gäbe.
»Ich verlange augenblicklich, den Direktor dieses Hause zu sprechen«, zischte sie, was bei Schwester Marta nicht einmal die kleinste Gefühlsregung auslöste. Wenn die Alte eine Antwort erwartete, würde sie das schon sagen.
»Wenn Sie sich eingerichtet haben, kommen Sie bitte zu mir, damit wir die Aufnahmeformalitäten erledigen können. Ich werde Dr. Müller-Thurgau sowie die Ärztin von Ihrer Ankunft in Kenntnis setzen«.
Marta verließ, ohne auf eine Antwort zu warten das Zimmer und ließ eine empörte Margarete zurück. Was glaubte diese unverschämte Person, sich mit ihr erlauben zu können. Nicht einmal das Gepäck hatte man ihr bislang in diese Kammer gebracht, wie also sollte sie sich da einrichten?
Im Foyer begegnete Schwester Marta Adrian, dem vierundzwanzigjährigen Studenten, der als Co-Therapeut jobbte, bei Bedarf aber auch als Mädchen für alles herhalten musste.
»Adrian, sind Sie so lieb und bringen das Gepäck auf Zimmer 8«? bat sie ihn und eilte auch schon weiter.
In seinem Büro legte Dr. Müller-Thurgau den Hörer auf die Gabel. Ihm war schlecht, er hatte das Gefühl, gleich sein Frühstück erbrechen zu müssen. Das, was der Finanzdirektor der Sanadad AG ihm gerade zu verstehen gegeben hatte, jagte ihm den Angstschweiß schubweise über den Rücken.
Seitdem dieser Versicherungskonzern die Klinik aufgekauft hatte wurde der Druck von Monat zu Monat größer. Gewinnmaximierung, er konnte dieses Wort nicht mehr hören. Wo sollte er den Rotstift denn noch ansetzen? Als Direktor musste er ein Auge darauf haben, dass Stammkunden treu blieben, nach Möglichkeit immer wieder für einige Wochen kamen. Das Therapieangebot hatten sie bereits ausgedünnt, da segelten sie auch schon hart am Limit. Die Ausgaben für die Küche waren Dr. Bürsli ein Dorn im Auge. Die seien viel zu hoch hatte dieser in einem sehr aggressiven Ton angemerkt. Ob man den Patienten Champagner zum Frühstück reiche, oder wieso dieser auf mehreren Rechnungen aufgetaucht sei, hatte er wissen wollen.
Die Rechnung über den Wein hatte er wohl noch nicht gesehen. Wie er erklären sollte, dass der Wein vom Gut der eigenen Frau gekauft wurde wusste er nicht. Da musste er sich schnellsten etwas einfallen lassen. Ob man die Rechnung verschwinden lassen könnte? Er musste dringend mit der Neuen aus der Buchhaltung reden. Auf die hatte er eh ein Auge geworfen, mit der würde er gerne mal eine Runde ins Heu gehen.
Im Weingut in Wädenswil legte Elvira den Brief zur Seite, nachdem sie ihn zum dritten Mal gelesen hatte. Ein Lächeln stand in ihrem Gesicht. Sie war gespannt, was die Familie sagen würde, wenn sie ihnen beim Essen erzählen würde, was man ihr angeboten hatte. So wie sie ihre Eltern kannte, würden sie nur wieder mit dem Kopf schütteln und fragen, warum sie mit ihren Erfolgen, die sie regelmäßig bei den Weinprämierungen einheimste, nicht zufrieden sein konnte. Ihr Vater würde vermutlich nur leise knurren, dass sie doch zufrieden sein sollte, und er würde an seiner Meinung festhalten. Doch dieses Mal dachte sie nicht daran, sich damit abspeisen zu lassen. Entweder die Eltern stimmten endlich zu, dass sie die Leitung des Weingutes bekam, oder aber sie würde das Angebot des Winzers aus Chexbres annehmen.
Das, was sie vor vier Wochen, als sie sich das dortige Weingut ansah, erfahren hatte, passte sehr gut in ihre Pläne. Das kinderlose Ehepaar, nun bereits im fortgeschrittenen Alter, wollte die anstrengende Arbeit nicht mehr machen. Man konnte sehr viele Aufgaben delegieren, aber die Leitung eines Weingutes abzugeben bedeutete auch, die Verantwortung in andere Hände zu legen. Schnell war man sich sympathisch, und die gegenseitigen Vorstellungen waren nahezu identisch. Unterschiede gab es bezüglich des Marketings. Elvira nutze die zeitgemäßen Werbeplattformen, ihre künftigen Patrons die althergebrachten Annoncen in diversen Magazinen und Fachzeitschriften, was dem Patron indessen gleichgültig war, solange der Absatz nicht zurück ging. In fünf Jahren will sich das Ehepaar ganz zurückziehen und den Betrieb veräußern. Das Erstkaufrecht hatte man ihr vertraglich zugesichert.
So wie sie es erwartet hatte verhielten sich ihre Eltern wenig kooperativ, und ihr Bruder riet dazu, den Job in Chexbres anzunehmen. Woher sie in fünf Jahren das Geld für den Ankauf des Weingutes nehmen wolle, hatte ihre Mutter sie gefragt und hinzugefügt, Elvira würde wohl nicht davon ausgehen, dass die Eltern bis dahin beide verstorben seien. Als sie darauf hinwies, dass ihr Bruder bereits sein Erbe angetreten habe und sie somit Anspruch auf ihren Erbanteil erhebe, war der Vater aufgestanden und hatte wortlos die geräumige Wohnküche verlassen.
»Schlag dir das aus dem Kopf«, war der Kommentar ihrer Mutter gewesen, bevor sie ihrem Mann folgte.
»Dumm gelaufen«, hatte ihr Bruder gesagt, »du wirst warten müssen bis der Letzte von den Beiden gestorben ist, vorher erben wir beide nichts. So ist das nun einmal, daran wirst du nichts ändern«.
»Das werden wir sehen«, hatte Elvira geantwortet, bevor sie sich ebenfalls erhob, um zu ihrer Arbeit zurückzukehren.
Kaum am Schreibtisch sitzend, wählte sie die Nummer ihres Anwaltes, des gleichen Anwaltes, der auch den Ehevertrag formuliert hatte.
Monika Tost saß abwartend Gottlieb Bühler gegenüber. Dieser blickte sie mit traurigen Augen an, blieb aber stumm. Er war ihr erster schwieriger Patient. Erst im Februar hatte sie ihre Ausbildung beendet und sich darüber gefreut, so schnell eine Stelle gefunden zu haben. Das Gehalt war nicht so hoch, wie sie sich das vorgestellt hatte, dafür hatte Dr. Müller-Thurgau aber auch nicht nachgehakt, warum ihre Noten nicht alle top waren.
»Herr Bühler, wenn sie nicht reden kommen wir nicht weiter«, wagte sie einen erneuten Versuch, diesen, in ihren Augen verstockten Mann, dazu zu bringen, über das Erlebte zu sprechen.
»Was soll ich denn noch erzählen, ich habe ihnen doch schon mehrfach erzählt, was passiert ist, was wollen sie denn noch hören? Die Schreie der Kinder, die der anderen Lehrkörper, meine eigenen«?
»Herr Bühler, wir versuchen Ihnen zu helfen, aber um Erfolg zu haben ist es wichtig, dass sie aktiv mitarbeiten«.
»Ich bin müde, entsetzlich müde, jede Nacht diese Albträume…«, nun war er schon wieder bei dieser ewigen Litanei, Monika Tost ging das auf die Nerven. Ein verstohlener Blick auf die Uhr. Noch fünf Minuten, dann hatte sie wieder eine Woche Ruhe.
Zum Glück waren die anderen Patienten pflegeleichter. Es wäre sonst nicht zum Aushalten. Eines wusste sie, in ihrer schicken New Yorker Praxis würde sie nur Patientinnen mit Eheproblemen nehmen, etwas anderes kam nicht in Frage, schon gar keine posttraumatischen Belastungsstörungen. Dafür hatte sie nicht Psychologie studiert und ihren Facharzt in Psychiatrie gemacht. Endlich, die Zeit war vorbei. Mit einem Zahnpasta-Lächeln entließ sie ihren Patienten.

Kapitel 3
Zwei Wochen später hatte sich Margarete Sollheimer daran gewöhnt, dass man ihr im Sanatorium keinen roten Teppich auszurollen pflegte. Immerhin konnte sie als Erfolg für sich verbuchen, Dr. Johannes Hohenems, von ihr liebevoll Johnny genannt, der eingebildeten Clarissa von der Thann abspenstig gemacht zu haben. Dieser sonnte sich sehr im verblichenen Glanz der nie sonderlich erfolgreich gewesenen Opern-Diva.
Sie hatte Schallplatteneinspielungen in den späten siebziger Jahren, wobei sie nur in kleinsten Rollen besetzt worden war, und einige Engagements in Wien und München, auch nach Paris und Mailand hatte sie es geschafft. Nie jedoch war ihr Name in großen Lettern hinter den Titelrollen gestanden.
Dafür reichte ihr Stimmvolumen nicht aus. Als lyrischer Mezzosopran konnte sie keine klirrenden Höhen erreichen können, was bei den meisten Hauptrollen zwingend notwendig gewesen wäre.
Den Hänsel hatte sie erfolgreich in der Wiener Volksoper und auch am Münchner Gärtner-Platz-Theater gesungen. Mit der Rolle der Dienerin Suzuki in Madame Butterfly, hatte sie es sogar einmal bis in die Wiesbadener Festspiele geschafft, aber die Rolle der Carmen war ihr zum Verhängnis geworden, obwohl sie diese stimmlich hätte schaffen müssen. Bei der Premiere der Bizet Oper in Zürich, ihrem Opernhaus, hatte man sie ausgebuht. Das war ihr zu viel gewesen.
Seitdem hatte sie jedes Angebot abgelehnt und von ihrem ererbten Vermögen gelebt. Allerdings hatte sie ihren Lebensstil keineswegs den nun nicht mehr vorhandenen Einnahmen angepasst und stand nun, fast zehn Jahre später, buchstäblich mit dem Rücken zur Wand. Ihre Villa war bis zum letzten Stein mit Hypotheken belastet, und wovon sie das Heizöl für den nächsten Winter bezahlen sollte, wusste sie nicht. Auf ihrem Sekretär stapelten sich die Mahnungen offener Rechnungen, deren Summe sie nicht einmal kannte. Sie war eine Meisterin im Täuschen und Tricksen und hoffte, auch diese Misere irgendwie bewältigen zu können.
Clarissa von der Thann schäumte vor Wut. Dieser Trottel namens Hohenems war auf diese aufgeblasene, alte Schreckschraube hereingefallen. Wie ein liebeskranker Trottel dackelte er hinter ihr her, „Frau Sollheimer hier, Frau Sollheimer dort“. Lächerlich machte sich der alte Pfau und merkte es nicht einmal.
In ihrem Zorn hatte sie versucht, den Rest der Truppe hinter sich zu vereinen, war aber bei Gottlieb Bühler auf Granit gestoßen. Selbst die tumbe Klara Schumann hatte aufbegehrt, sie solle doch diese arme Diva in Ruhe lassen, sie, Clarissa, sei doch eh nur noch zwei Wochen da, warum sie sich denn so aufrege?
Bereits am zweiten Tag war Clarissa dieses Opernrelikt, das direkt aus dem Boulevard der Dämmerung gestiegen zu sein schien, zuwider gewesen, hatte diese auf ihre Einladung, sich den strickenden Damen anzuschließen, doch tatsächlich gesagt, Stricken sei etwas für gewöhnliche Hausfrauen. In den Kreisen, in denen sie zu verkehren pflege, gäbe man sich mit derart profanen Beschäftigungen nicht ab. Und mit einem bösartigen Blick auf ihre nicht gerade vollschlanke Figur, hatte dieser klapperdürre Hungerhaken hinzugefügt:›etwas mehr Bewegung würde wohl nicht schaden, das viele Sitzen mache dick‹.
Das hatte sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen können und sich bei der ihr zugewiesenen Pflegebetreuung ausgiebig über dieses Frauenzimmer ausgelassen. Schwester Constanze hatte dazu natürlich nichts sagen dürfen, aber an ihrem tröstenden Blick hatte Clarissa erkannt, dass diese vollauf ihre Meinung teilte.
Dr. Müller-Thurgau präsidierte das morgendliche Briefing. Vor ihm stapelten sich die Schnellhefter mit den Beurteilungsbögen der Patienten, obenauf derjenige Clarissa von der Thanns.
»Gibt es schon jemand unter den restlichen Patientinnen, der das Stricknadelgeschwader zukünftig anführt«? fragte er in die Runde. Da er keine Antwort erhielt befand er es für nötig, seinem Stab noch einmal deutlich vor Augen zu führen, wie wichtig die Weitergabe des Flurfunks an sie alle war.
»In den Einzelsitzungen und bei den Gruppentherapien erfahren wir nur das, was sie uns freiwillig mitteilen. Was sie wirklich meinen, meine Damen und Herren, erfahren wir über das, was uns mittels Stricknadelgeschwader zugeflüstert wird. Es ist also von immensem Vorteil, wenn sich nicht alle untereinander verstehen. Das brauche ich nicht zu betonen, oder«? Mit einem strengen, prüfenden Blick in die Runde versicherte er sich, dass sie seinen Appell verstanden hatten.
Aufgeblasener Fatzke, dachte Schwester Marta, ohne uns könntest du deinen Laden zumachen, du hältst uns wohl für blöd. Schon seit Längerem hatte sie ihn auf dem Kicker. Als sie in der Klinik angefangen hatte herrschte ein anderer Wind. Sein Vorgänger hatte Stil, war ein Grandseigneur mit vollendeten Umgangsformen.
Dr. Müller-Thurgau war ein Bauerntölpel, zwar ein studierter, aber dennoch ein Tölpel und von sich eingenommen bis zum Abwinken, dabei keine Ahnung vom Blasen und Tuten, bestenfalls vom Blasen lassen. Mit seinem Vorgänger hätten die Oberen der Sanadad ihre Spielchen nicht machen können. Er wäre ihnen hoch erhobenen Hauptes entgegengetreten und hätte ihnen klargemacht, dass man eine solche Klinik nicht durch Sparmaßnahmen auf Erfolgskurs halten konnte. Er hätte ihnen das Wort Renditensteigerung in allen Bestandteilen derart um die Ohren geknallt, dass sie in ihrem hinterwäldlerischen Chur die Köpfe eingezogen hätten.
Solche Bespitzelungen mochten in Dunkeldeutschland, wie man die ehemalige DDR umgangssprachlich nannte, üblich gewesen sein, aber in einem renommierten Schweizer Sanatorium sollten die Patienten so etwas nicht erwarten müssen.
Die Doktorandin Monika Tost hingegen hing geradezu an den Lippen Dr. Müller-Thurgaus, einem Mann ganz nach ihrem Geschmack, zielorientiert und durchsetzungsstark, dabei auch nicht übel aussehend, aber leider gebunden. Sie hatte, direkt nachdem sie ihm beim Vorstellungsgespräch zum ersten Mal begegnet war, seinen Namen gegoogelt und war auf der Seite des familieneigenen Weingutes gelandet, wo er auf dem Foto inklusive Frau und Kindern lächelnd in die Kamera blickte. Dass seine Ehe längst nur noch auf dem Papier bestand, konnte sie nicht wissen. Hätte sie es gewusst, wäre er vor ihren Avancen nicht sicher gewesen. Sie war der Typ Frau, der die Unabhängigkeit liebte, aber nichts gegen materielle Grundversorgung einzuwenden hatte. Ein Freund, spendabel und vermögend, der ihr die Freiheiten zugestand, die sie für sich einforderte, wäre ihr nicht ungelegen gekommen.
Die anderen Therapeuten und Pfleger nahmen den Vortrag ihres Chefs gelassen hin. Längst hatten sie sich daran gewöhnt, dass nahezu monatlich neue Forderungen nach Einsparungen dazu führten, dass immer mehr Leistungen gekürzt wurden, und sie gut beraten waren, sich still zu verhalten, wollten sie bei der nächsten Entlassungswelle, die unweigerlich kommen würde, nicht unter den Auserwählten sein, die ihren Hut nehmen mussten.
Mehr als die Hälfte des Personals war seit der Übernahme durch die Sanadad AG bereits abgebaut worden. Fast jeder schaute sich nach einem neuen Arbeitsplatz um, wobei das Angebot aber aufgrund der Größe der Eidgenossenschaft sehr begrenzt war, vor allem auch dadurch, dass man schon allein aufgrund sprachlicher Probleme nicht in jedem Kanton arbeiten konnte oder auch wollte.

Elvira Müller-Thurgau legte den Brief ihres Anwaltes zur Seite. Ihre Eltern und auch ihr Bruder würden vom Inhalt des Schreibens nicht begeistert sein. Ihr Anwalt forderte, einen Teil der zu erwartenden Erbschaft vorab auszuzahlen, wobei er argumentierte, dass der Bruder bereits die Leitung des Weingutes von den Eltern anvertraut und somit sein Erbe angetreten habe. Demzufolge stünde seiner Mandantin der geldwerte Anteil des Weingutes zu. Großzügiger Weise verzichte diese darauf, den kompletten Betrag, den er mit einer geschätzten Summe im mittleren siebenstelligen Bereich beziffert hatte, einzufordern.
Sie konnte sich gut vorstellen, wie ihr Bruder toben würde, wenn er den Brief las, hieß es doch, eine Hypothek aufzunehmen und stellte für das Weingut einen nicht unerhebliche Belastung für einen längeren Zeitraum dar. Folglich mussten er und seine Familie zukünftig den Gürtel etwas enger schnallen. Längst hatte sie den Vertrag mit den Winzern am Genfer See geschlossen und sich damit das alleinige Vorkaufsrecht am Weingut gesichert.
Da sie praktisch so gut wie nichts mit ihren Eltern als Arbeitgeber schriftlich vereinbart hatte, brauchte sie auch keine Kündigungsfristen einzuhalten und gedachte daher, bereits im nächsten Monat ihre neue Arbeitsstelle anzutreten.
Das war das nächste Problem, was auf ihren Bruder zukam, er brauchte einen neuen Kellermeister, denn er selbst war nicht in der Lage, Weine, in der gleichen Qualität wie die ihren, auszubauen. Dafür fehlte ihm einfach das gewisse Händchen. Dazu brauchte es mehr als das gepaukte Wissen an einer Weinbauhochschule, die er eh nur mit einem mittleren Abschluss verlassen hatte, während auf ihrem Diplom in fetten Lettern summa cum laude prangte.
Ihr Ehemann würde auch dumm aus der Wäsche schauen, wenn sie ihm klarmachte, dass sie spätestens ab dem ersten August am Genfer See wohnen würde, und es in der neuen Wohnung keinen Platz mehr für ihn gab, weder einen Stuhl am Esstisch, geschweige denn einen Platz zum Schlafen. Von ihr aus konnte er in der Wohnung in Wädenswil wohnen bleiben, sofern ihre Familie sie nicht an jemand anderen vermieten wollte, um die Zinslast der Hypothek etwas abzumildern.

Kapitel 4
Clarissa von der Thann war zufrieden. Mit einem seligen Gesichtsausdruck und einem frischen Wollknäuel saß sie, gewandet in einem farbenfrohen Kaftan, mit ihren Stricknadeln klappernd, auf ihrem Lieblingsplatz im Wintergarten. Sie hatte es geschafft, eine zweiwöchige Verlängerung zu erhalten. Nicht gerade leise gab sie ihre Binsenweisheiten an Klara Schumann weiter, die inzwischen in der Lage war, einfachste Topflappen zu stricken. Da Klara die Ansichten Clarissas zu gut kannte und derer schon lange überdrüssig war, begnügte sie sich damit, ab und an ein Ja zu dem nicht enden wollenden Redefluss beizusteuern.
Gottlieb Bühler, der nach einer Nacht mit anhaltenden Albträumen und nahezu leerem Magen, das Frühstück hatte er ausfallen lassen müssen, mit der dritten Tasse Kaffee und einem pelzigem Geschmack im Mund, in der anderen Ecke des mit Palmen und Korbmöbeln mediterran gestalteten Raumes saß, versuchte sich auf seinen Artikel in der Tageszeitung zu konzentrieren. Das stakkatoartige Geplapper von der Thanns ging ihm gewaltig gegen den Strich. Konnte dieses vermaledeite Weib nicht einmal für ein paar Minuten den Mund halten? Er versuchte gerade zum dritten Mal den gleichen Satz zu lesen, als Margarete Sollheimer, in einem schlichten aber dennoch sündhaft teuer wirkenden, malvenfarbenen Kleid, an den Tisch trat und fragte, ob sie sich zu ihm setzen dürfe.
Mit einer dezenten Handbewegung in Richtung Clarissa weisend und so laut, dass diese es nicht überhören konnte, sagte sie: »In deiner Gesellschaft fühle ich mich wesentlich wohler, ich wüsste nicht, worüber ich mich mit den strickenden Hausfrauen unterhalten könnte«.
Sie wartete Gottliebs Einverständnis gar nicht erst ab und setzte sich ihm gegenüber. Dieser fragte höflicherweise, wo denn Johannes Hohenems abgeblieben sei, denn es war sehr ungewöhnlich, sie ohne ihren Anhang zu sehen.
»Johnny hat Einzel bei der Tost, müsste aber bald vorbei sein. Ich musste noch einen Anruf meiner Agentin über mich ergehen lassen. Weißt du, wenn die eine lukrative Anfrage…«
Etwa zur gleichen Zeit erfuhr Dr. Urs Müller von seiner Frau Elvira Müller-Thurgau, dass ihre gemeinsame Zeit in Kürze vorbei sein werde und er sich aussuchen konnte, ob er sich eine Wohnung suchen oder alleine für die Miete, der für einen Einzelnen eh viel zu großen Wohnung auf dem Weingut seiner Schwiegereltern, aufkommen wollte.
»Warum? Nenn‘ mir einen Grund, warum du hier wegwillst. Du hast doch alles, was willst du mehr? Mach es uns doch nicht schwerer als es sein muss«, sein Ton, anfangs noch sicher und bestimmend, wurde immer jämmerlicher.
Gleich fängt er noch zu weinen an, dachte Elvira, die nicht darauf antwortete, ihn nur mit einem verachtenden Blick bedachte. Nachdem er noch eine lange Weile lamentiert hatte, begriff Urs, dass sie es ernst meinte, dass es kein Zurück auf null geben würde. Als er sie nur noch resignierend ansah verpasste sie ihm den Todesstoß, indem sie ihn wissen ließ, dass längst alles in trockenen Tüchern war.
Als er kurz danach, mit seinem prestigeträchtigen Cadillac CT6, auf die Autobahn auffuhr trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch, genoss die Kraft des V6 Motors und fegte alles, was zu langsam fuhr, mittels Lichthupe von der linken Spur. Er musste seinen Frust abreagieren. Dass er das ausgerechnet am Steuer vollzog, sollte sich allerdings schnell rächen.
»Aufgeblasene Zicke«, zischte Clarissa und sah Klara dabei an. Diese schüttelte nur den Kopf. Sie wollte sich nicht zwischen die Fronten stellen. Im Grunde mochte sie beide Damen, ihr gefiel das burschikose Auftreten Clarissas genauso wie die elegante Reserviertheit, mit der Margarete die Meisten von ihnen, Patienten wie Schwestern und Pfleger, in ihren Bann zog, sobald sie den Raum betrat. Wie es bei den Therapeuten war, wusste sie nicht, diese hatten von Berufs wegen stets ein Pokerface, zumindest bei den Gruppentherapien.
Zu ihrem Glück kam Bettina, die gerade einmal zwanzigjährige Border-Linerin, daher geschlurft und ließ sich seufzend ihr gegenüber in einen Fauteuil fallen. Das war ungewöhnlich, denn ihren bühnenreifen Aufritt hatte sie bei der morgendlichen Befindlichkeitsrunde bereits hinter sich gebracht. Jeden Morgen und jeden Abend war es das Gleiche, da wurde geschluchzt und gezittert, mit brüchiger Stimme das Leid geklagt. Anschließend war man putzmunter und klapperte fröhlich mit den Stricknadeln.
»Tinchen, was fehlt dir, was ist los«, wollte Clarissa sogleich von der Thann wissen. Mütterlich kümmerte sie sich um die junge Frau, die in ihrem kurzen Leben noch nichts geleistet hatte, sah man vom bestandenen Abitur einmal ab. Selbst das hatte sie nur dank Papas Geldbeutel an einem privaten Lyzeum bestanden, wo man beide Augen und sämtliche Hühneraugen in solchen Fällen gerne zudrückte, wenn der Spendenscheck entsprechend hoch ausgestellt wurde.
»Das Einzel, schluchzte Bettina, es war wieder so schlimm. Sie wollen, dass ich nächsten Dienstag gehe, dabei bin ich doch erst fünf Monate hier«, Tränen kullerten über ihre Wangen. Clarissa hatte sich erhoben, war zu ihr geeilt und sie sogleich an ihren üppigen Busen gedrückt. Zart strich sie ihr über die Haare.
»Du Ärmste, das können sie nicht machen, ich rede mit Schwester Marta, das regeln wir schon. Es wäre doch gelacht, wenn du nicht so lange bleiben könntest, wie du brauchst, bis du weißt, was du studieren möchtest. Sie müssen doch einsehen, dass du nach der Anstrengung mit dem Abitur Erholung brauchst, zumal du doch so sehr unter dem sadistischen Musiklehrer und der intoleranten Deutschlehrerin leiden musstest und ein posttraumatisches Belastungssyndrom hast«.
In seiner Ecke knurrte Gottlieb:»posttraumatisches Belastungssyndrom, dass ich nicht lache«, und legte die Zeitung zur Seite, nachdem er zum fünften Mal erfolglos versucht hatte, den Inhalt des Satzes zu erfassen.
»Wohlstandverwahrlost trifft es wohl eher«, beeilte sich Margarete zu sagen und blinzelte ihm zu. Auch das mochte er nicht kommentieren. Er erhob sich, murmelte, er müsse seine Übungen machen und ließ die Frauen allein zurück.
Sogleich sank die Temperatur im Raum um gefühlte zehn Grad, wenn nicht mehr. Eisiges Schweigen breitete sich aus. Klara fühlte sich äußerst unwohl und wäre am liebsten geflohen, traute sich aber nicht. Clarissa würde wie ein Bullterrier reagieren und die alternde Diva sie keines Blickes mehr würdigen, fürchtete sie. Bestimmt würde die Mezzosopranistin neue Gruppensprecherin werden, wenn Clarissa irgendwann auscheckte.
Schwester Marta brauchte wieder einmal einiges an Medikamenten. Ihr Sohn hatte ihr eine Liste mitgegeben, was seine Dealer haben wollten. Agomelatin, Bupropion, Citalopram, Desvenlafaxin, Duloxetin, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Levomilnacipran, Milnacipran, Mirtazapine, Paroxetin, Reboxetin, Sertralin, Venlafaxine, Vilazodone und Vortioxetin, las sie. Das war ja nahezu alles, was es auf dem Markt gab. Das hatten sie sicherlich nicht alles in ihrer Apotheke und gleich gar nicht in der geforderten Menge. Kleinste Mengen konnte sie verschwinden lassen, indem sie bei der Zusammenstellung der Medikamente eine Pille gegen ein Placebo austauschte. Außerdem hatte sie nicht für alle Tablettenformen die entsprechenden Placebos zur Verfügung.
In was war ihr Sohn da hineingeraten. Mit seiner Sucht ruinierte er nicht nur sein Leben, zunehmend brachte er auch sie in eine Situation, die zur sofortigen Entlassung führen würde, sollte ihr einmal nur ein Fehler unterlaufen. Allzu oft konnte sie den Patienten auch keine Placebos unterjubeln, da sonst die Therapeuten merken könnten, dass da was nicht stimmen konnte.
Müller-Thurgaus Laune war auf einem Tiefpunkt, als er am frühen Nachmittag in der Klinik eintraf. Man hatte ihn geblitzt mit Tempo Zweihundert. Das war Scheiße, mehr als Scheiße, denn er war vor nicht allzu langer Zeit bereits mit deutlich erhöhter Geschwindigkeit geblitzt worden, hatte einige tausend Franken Strafe zahlen und seinen Führerschein für vier Wochen abgeben müssen. Mit sehr viel Glück könnte sein Anwalt einen Deal aushandeln, und er müsste lediglich für sehr lange Zeit seine Fahrlizenz abgeben und vermutlich eine sehr hohe Geldstrafe zahlen, bliebe aber von der Gefängnisstrafe verschont.
Angekommen in seinem Büro fand er ein als Top Secret gekennzeichnetes Schreiben des Finanzchefs der Sanadad vor, welches seine Laune noch weiter verschlechterte.
„… empfehlen wir, bei der Behandlung mehr Placebos einzusetzen, da wir errechnet haben…, siehe beiliegende Tabelle“, las er in dem neuen Pamphlet.
Der Blick auf die beigefügte Tabelle ließ seinen Blutdruck in ungeahnte Höhen schnellen. Das war nun der Gipfel an Unverschämtheit. So etwas konnte nur einem geistig minderbemittelten Controller eingefallen sein. Anhand der bislang verabreichten Medikamente ausgewählter Patienten seiner Klinik, hatte man ihm Einsparungsmöglichkeiten zur Effizienzsteigerung empfohlen. Dann konnte er die meisten Patienten direkt entlassen. Denen in Chur musste doch klar sein, dass eine Behandlung ohne Antidepressiva und Psychopharmaka in den meisten Fällen nicht möglich war. Was man von ihm verlangte war kriminell, höchst kriminell sogar. Wenn die Presse Wind davon bekam konnten sich alle warm anziehen. So etwas ging gar nicht. Er nahm es sicher nicht immer so genau mit allem, aber das, was sie nun verlangten, konnte ihn direkt hinter Gitter führen. Das ließ sich mit seinem Anspruch als Arzt und Therapeut nicht vereinbaren.
Dr. Johannes Hohenems und Margarete Sollheimer hatten es sich, nach einem Spaziergang am See, in der Cafeteria gemütlich gemacht, er mit einem Café Creme und einem Stück Rüblikuchen, sie mit einer Tasse Tee.
»Mein Liebes, möchtest du denn nicht ein klitzekleines Stückchen…«?
»Johnny, nein, ich muss auf meine Figur achten, wie oft soll ich das denn noch betonen«, unterbrach Margarete ihn. Sie wusste, dass er von Clarissa von der Thann anderes gewohnt war. Diese hatte bestimmt mehr als ein Stückchen Kuchen gegessen und auch den Schlagrahm nicht weggelassen, dachte sie, und konnte sich nicht verkneifen zu sagen: »Ich weiß, du bist da etwas ganz anderes gewohnt«.
Johannes antwortete darauf nicht, die spitze Bemerkung zu Clarissas Figur hätte nicht sein müssen. Warum mussten die beiden Frauen diesen ekelhaften Kleinkrieg führen, und warum konnten sie für diese paar Wochen, die sie miteinander verbringen mussten, nicht wenigstens versuchen höflich miteinander umzugehen?
Man hätte den Militärdienst für Schweizerinnen obligatorisch einführen sollen, sinnierte er. Die Rekrutenschule hatte noch keinem geschadet. Der Vorteil des Wehrdienstes bestand darin, dass alle Berufsstände, wild durcheinander gewürfelt, vertreten waren. Auf der Stube lagen der einfache Volksschüler neben dem Abiturienten, der Bauer neben dem Staatsanwalt und ein Kaufmann neben dem Geschäftsführer einer großen Firma. Sie wurden darauf gedrillt, sich im Ernstfall aufeinander verlassen zu können. Da gab es diese Standesdünkel nicht. Ach ja, sein Militär, wie sehnte er sich jetzt bereits wieder zurück an seinen Einsatzort, zurück zu seinen Strukturen, seiner Verlässlichkeit. Ein Seufzen entrang sich seiner Brust.
»Was fehlt dir Liebster«? Sofort war Margarete auf der Hut. Sie war in ihren Bemühungen, ihn soweit zu umgarnen, dass er bereit war, ihr aus der Patsche zu helfen, bereits ein gutes Stück weitergekommen. Ihm fehlte doch hoffentlich nicht etwas Ernsthaftes, etwas das womöglich zu einem frühzeitigen Tod führen könnte, Herzinfarkt oder ähnliches.
»Beruhige dich Liebes, es ist nichts, ich habe nur gerade an mein geliebtes Militär gedacht«, beruhigte er sie, da er an ihrer Frage hören konnte, welche Unruhe er mit seinem Seufzen ausgelöst hatte. Sie war so ein zerbrechliches Persönchen, darauf musste man Rücksicht nehmen.
»Ach so, wenn es das nur ist, dann ist ja alles gut«, mit einem seligen Gesichtsausdruck führte Margarete die Tasse zum Mund, um den letzten Schluck des inzwischen erkaltenden Tees zu sich zu nehmen.
Am gleichen Tag kündigte Schwester Martha in der abendlichen Befindlichkeitsrunde an, dass in der folgenden Woche, in der fünf Mitpatienten beiderlei Geschlechts abreisten, ein Journalist der Zürcher Zeitung zu ihnen kommen werde, für den sie einen Tutoren bräuchten. Daraufhin meldete sich der zwanzigjährige Joshua Lobesang, der, seit seiner Ankunft vor zehn Wochen, stets „glücklich“ als Gemütszustand angab.
Da werden Welten aufeinandertreffen, dachte Schwester Martha, der nichtsnutzige Kiffer, der in seinem jungen Leben bereits mehr Drogen ausprobiert hatte als Guide für den erfolgsverwöhnten Journalisten, der neben seiner Arbeit bei der Zürcher auch als Autor beachtliche Erfolge verbuchen konnte. Das versprach heiter zu werden.
In seinem Büro machte sich Dr. Urs Müller, dem der Thurgau in Form seiner Ehefrau abhanden gekommen war, derweil Gedanken über die Gefahr, die von diesem Journalisten ausgehen könnte, sollte dieser auf den Gedanken kommen, seinen Klinikaufenthalt in Form eines Blogs zu kommentieren oder noch schlimmer, in Form einer Kolumne in der Zürcher zu veröffentlichen. Es gab Tage, da hasste er seinen Beruf, der heutige war ein solcher.

Kapitel 5
Johann Georg Koblitz, seit Ende letzten Jahres freischaffender Redakteur des bekannten Zürcher Morgenblattes, unter Lesern als die Zürcher Tantè bekannt, war dabei, seine Koffer für den mindestens zehn Wochen geplanten Aufenthalt in der berühmten psychosomatischen Wilhelm Tell Klinik zu packen. Deren ausgezeichneter Ruf hatte ihn dazu bewogen, sich dort therapieren zu lassen. Seine Garderobe war nahezu vollständig, und sollte etwas fehlen, so konnte er sich dies in dringenden Fällen in St. Gallen oder Kreuzlingen besorgen, ansonsten am Wochenende, bei den obligatorischen Heimfahrten, von zuhause mitbringen.
Wichtig waren im Grunde genommen nur sein Laptop und sein Diktiergerät, die Arbeitsmittel, mit denen er seinen Lebensunterhalt verdiente, respektive überwiegend verdient hatte. Dank der fortgeschrittenen Technologie brauchte er Diktiertes mit der entsprechenden Programmfunktion auf dem Laptop nur mehr in Schrift zu verwandeln. Im Gegensatz zu früher ersparte ihm das sehr viel Zeit, die er zu nutzen wusste.
Seitdem er vor mehr als einem halben Jahr nach fast zweijähriger Depression, teils begleitet von heftigen Panikattacken und Ängsten, innerhalb weniger Tage in die manische Phase katapultiert worden war, hatte er in einem nahezu durchgängigen Schaffensprozess zwei Bücher geschrieben, die im renommierten Berner AbisZett Verlag erschienen und innerhalb kürzester Zeit weit vorne auf den Bestseller Listen gelandet waren. Neben seiner Arbeit für die Zürcher Tantè, bei der er bis zu seinem Renteneintritt federführend im Bereich Auslandsberichterstattung tätig war, hatte er viel publiziert.
In jüngeren Jahren war er viel im Nahen Osten unterwegs gewesen, hatte von den dortigen Hot Spots, sei es in Kabul, Bagdad oder Teheran, die Leser über die dortigen Zustände unterrichtet. Sehr oft war er ins Heilige Land gereist, hatte aus Jerusalem und Tel Aviv berichtet, aber auch aus Ramallah, der Hauptstadt des Westjordanlandes.
Später hatte er mehrere Jahren der Europaabteilung angehört, einem drei Mann Team, die sich die Arbeit untereinander aufteilten, sofern der Chefredakteur keine Direktiven erließ. Er berichtete vom Brexit aus London, besah sich vor Ort die Schwierigkeiten an der Grenze zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und der Republik Irland an, wo er Fischer beider Landesteile interviewt hatte, die zwar geografisch gesehen alle Iren waren und dennoch in Welten zu leben schienen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, wobei jeder aber für sich in Anspruch nahm, recht zu haben.
Er berichtete von Straßenkrawallen in Paris und Marseille und besuchte die Parteitage der Grünen und der AFD in Deutschland.
Seine Zeitungsartikel waren gefragt, häufig wurde er auch zu Talk Shows im Deutschen Fernsehen eingeladen, wobei er es nach Möglichkeit vermied, solchen Einladungen Folge zu leisten. Er hielt per se nichts von Talk Shows, schon gar nicht, wenn immer die gleichen Leute zu jedem Thema etwas zu sagen hatten, wie früher der jetzige deutsche Gesundheitsminister, der aber mittlerweile von seinem Vorgänger Jens Spahn in der Rolle des Besserwissers abgelöst worden war. Seinem Bankkonto hätte es sicher gut getan, aber er war auch ohne diese Einnahmen nicht gezwungen am Hungertuch zu nagen.
Sein Elternhaus in Kilchberg gehörte ihm genauso wie zwei Eigentumswohnungen an der Goldküste, wie das östliche Ufer des Zürichsees im Volks-mund genannt wurde. Er fühlte sich in dem Haus mit dem unverbaubaren Seeblick sehr wohl. Ihn störte es wenig, wenn die sonnenverwöhnten Bewohner der Goldküste das Westufer spöttisch als Pfnüselküste, im Schriftdeutsch mit Schnupfenküste bezeichneten, da man deren Bewohner wegen des an Sonnentagen früher auftretenden Schattens unterstellte, sich leicht einen solchen zu holen.
Er war stolz darauf gebürtiger Kilchberger zu sein, lag sein Elternhaus doch in der Nähe des von ihm hoch verehrten, leider schon vor seiner Geburt verstorbenen, großen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Thomas Mann, mit dessen Sohn Golo er gelegentlich das eine oder andere Wort gewechselt hatte, so wie man es unter Nachbarn üblicherweise tat, freundlich aber distanziert.
Außerdem gab es immer noch die Schokoladenfabrik am See, deren Produkte er schon von Kindesbeinen an geliebt hatte, was vermutlich damit zusammenhing, dass die Schokolade aufgrund des Conchierens, worauf sie das Patent hatten und, was in jedem Werbespot hervorgehoben wurde, besonders cremig war. Und gleich daneben befand sich die Firma, deren Motorboote aus Edelholz bei Kennern weltweit noch immer hoch im Kurs stehen.
Vor drei Jahren hatte er die Diagnose „Bipolare Störung“ erhalten, was er als absoluten Unfug empfand, und sich deshalb eine zweite Meinung bei einem anderen Facharzt geholt hatte. Dieser hatte die Diagnose des Kollegen verworfen und von einer anhaltenden Depression, aufgrund posttraumatischer Belastungsstörungen, gesprochen. Diesen hatte er sich in zahlreichen ambulanten und drei stationären Therapien gestellt und betrachtete dieses Thema für austherapiert. Somit gab es für ihn zunächst keinen Grund, eine weitere Therapie zu beginnen.
Aber vor einem halben Jahr hatte er selbst gespürt, dass sich etwas Grundlegendes geändert hatte. Von jetzt auf gleich schienen Panikattacken nie da gewesen zu sein. ER hatte keinen Angstschweiß mehr auf der Stirn, wenn er seine Kontoauszüge prüfte, die seit Jahren ein fettes Plus aufwiesen und nie einen Grund zur Sorge hätten sein müssen. Von jetzt auf gleich war die Angst, Hotelzimmer und Flüge buchen zu müssen oder Bahntickets und Leihwagen zu beschaffen, verschwunden.
Seine Kollegen führten die ungewohnte Lockerheit und Heiterkeit auf seinen bevorstehenden Ruhestand zurück. Fortan konnte er Artikel schreiben, musste es aber nicht und konnte sich die Themen aussuchen, über die er berichten wollte. Sein Arrangement mit der Chefetage war von manchen Kollegen neidvoll zur Kenntnis genommen worden. Beide Seiten hatten, wie in solchen Fällen üblich, Schweigen über die Honorierung vereinbart, ansonsten wurde aber offen über den bevorstehenden Eintritt in den Ruhestand gesprochen, zumal Leser und vor allem Abonnenten damit bei Laune gehalten werden konnten. Wie alle Printmedien hatte auch die Zürcher Tantè zunehmend mit Abonnentenschwund zu kämpfen. Die jüngere Generation bezog ihre Informationen zunehmend aus dem Internet und bediente sich dort vor allem der Sozialen Medien.
Die plötzliche Lockerheit war nicht das alleinige Merkmal dieser Phase. Eine nie da gewesene Gereiztheit, eine ungewohnte sexuelle Enthemmung, die ihn zu Handlungen verleitete, die ihn ohne weiteres in den Knast bringen könnten, sollte er erwischt werden, machten ihm zu schaffen. Zusätzlich belasteten ihn Schlaflosigkeit und ein ungeheurer Mitteilungsdrang. Das waren die weniger schönen Begleiterscheinungen dieses Krankheitsbildes, dem er nun mit einer weiteren Therapie entgegenwirken wollte.
Im Prinzip war er froh, wieder unter den „Lebenden“ zu weilen und wollte diesen euphorischen Zustand auch möglichst lange auskosten. Allerdings wusste er auch, dass er unweigerlich wieder in einer depressiven Phase landen würde, hoffte aber in der Klinik Strategien entwickeln zu können, um die Übergänge der einzelnen Phasen zu dämpfen, und sie somit nicht mehr so extrem erleben zu müssen.
Dass dies ein schwieriges Unterfangen werden könnte, wenn man wie er, jeglichen Medikamenteneinsatz ablehnte, war ihm durchaus bewusst.
Gottlieb Bühler versuchte sich auf seine Mail, die er seinem Kollegen Bernardo Scaletti schrieb, zu konzentrieren, was ihm durch das ständige Plappern der Damen vom Stricknadelgeschwader nicht gerade leicht gemacht wurde. So viel Mist, wie diese Clarissa von sich gab, konnte kein einigermaßen gebildeter Mensch ertragen. Für jemanden mit abgeschlossenem Studium war es geradezu eine Qual. Er wollte Bernardo am übernächsten Wochenende in Ascona besuchen, wo dieser ebenfalls an PTBS leidend, sich in einer Tagesklinik behandeln ließ. Im Gegensatz zu ihm, hatte Bernardo eine große Familie, die entlang des Lago Maggiore mehrere Hotels betrieb und in der er Rückhalt fand. Sie standen in lockerem Kontakt. In seiner ersten Mail berichtete Gottlieb aus der Klinik, dass man seitens der Therapeuten erwarte, dass er ab dem zweiten Wochenende die folgenden außerhalb der Klinik verbringen müsse. Daraufhin hatte ihm Bernardo spontan angeboten, die Wochenenden im Tessin zu verbringen.
»… bin ich echt gespannt, was der Koblitz für ein Typ ist«, beendete Clarissa von der Thann ihren Monolog, sich Beifall heischend im Geschwader umblickend. Die anderen Damen waren entweder so mit Maschenzählen beschäftigt, dass sie nicht zugehört hatten, oder, wie Klara Schumann derart sediert, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Da die gewünschte Zustimmung ausblieb, wechselte sie einfach das Thema und ergoss sich in einem neuerlichen Monolog über die erstklassige Qualität der diversen Therapiemaßnahmen, wobei sie sich ausführlich dem Thema „Gemeinsames Wandern“ widmete.
Diese Therapie wurde zwar mehr oder weniger von allen angenommen, war aber oft Gesprächsthema bei den Mahlzeiten, weil sich den meisten von Ihnen, so auch Gottlieb, der Sinn dieser Veranstaltung nicht erschloss. Einmal hatte er sich dieser Prozedur unterzogen, danach seine Therapeutin Monika Tost darum gebeten, diese Maßnahme aus seinem Pflichtenheft zu streichen. Widerwillig hatte sie es getan, wissend, dass dies unangenehme Fragen ihres Chefs nach sich ziehen würde.
Konnte dieses Frauenzimmer nicht einmal ihre verdammte Klappe halten, ging es Gottlieb durch den Kopf, der bereits zum dritten Mal den Satz umformulierte, in welchem er Bernardo für die Einladung dankte und den Wunsch äußerte, gerne wieder mal in Ascona zu sein, ohne dies allzu fordernd einzubringen, denn er wusste, dass die Familie Bernardos dort eines der besten Hotels führte. Bernardos Angebot war Gottlieb auch deshalb angenehm, weil er selbst keine Angehörigen in der Schweiz hatte, was er bereits sehr deutlich beim Aufnahmegespräch zum Ausdruck gebracht hatte.
Das hatte die Klinikleitung allerdings nicht zu einer Ausnahme veranlasst. Offiziell deklarierte die Klinik diese Wochenenden als Teil eines wohl bedachten Therapiekonzeptes. Die Wochenenden sollten nämlich so etwas wie ein Übungsfeld für die Umsetzung therapeutischer Fortschritte sein, sozusagen ein Stresstest in der häuslichen Umgebung, denn dort sollte man sich wieder zurechtfinden.
In Tat und Wahrheit war das aber kein bedachtes Therapieelement, sondern schlicht eine weitere Sparmaßnahme, also eine Reaktion Dr. Müller-Thurgaus auf die erste Forderung der Sanadad nach mehr Effizienz. Seitdem wurde diese äußerst wichtige Therapiemaßnahme gnadenlos durchgesetzt, ob es im Einzelfall passte oder nicht, war völlig ohne Belang. Jegliche Abweichung hätte eine Rückfrage des Controllings der Sanadad nach sich gezogen.
Der hormonumnebelte Blick, mit dem Dr. Johannes Hohenems bislang seine angebeteten Margarete Sollheimer angesehen hatte, hatte sich seit dem letzten Wochenende etwas gelichtet. Die sich stapelnden Mahnungen, in der etwas zu sehr in die Jahre gekommenen Villa der leider auch etwas zu wenig erfolgreichen Diva, hatten ihm die Augen geöffnet. Margarete brauchte ihn weniger als Liebhaber, denn als Goldesel. Sicher würde sie sich seinen Avancen hingeben, würde er sich bereit erklären, ihr aus der Patsche zu helfen, wie sie ihre desolate finanzielle Lage zu umschreiben pflegte. Aber war es das wert? Diese Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, als er ohne wirklich zu lesen, – in seinem Rohrsessel, gegenüber dem immer noch mit seiner Mail beschäftigten Gottlieb sitzend – die Zürcher Tantè von vorne nach hinten durchblätterte.
Ob er mit ihm mal ein Gespräch von Mann zu Mann führen sollte, sinnierte er, dabei völlig außer Acht lassend, dass sich Gottlieb nie am Klatsch beteiligte und in den seltenen Fällen, in denen er im gemeinschaftlichen Wohnzimmer saß, meist mit geschlossenen Augen seiner Musik lauschte, die so leise aus den Kopfhörern kam, dass man, selbst dicht bei ihm sitzend, nichts davon mitbekam.
Er, Johannes von Hohenems, hatte zu den anderen männlichen Patienten kaum Kontakt, er fühlte sich in weiblicher Gesellschaft wesentlich wohler, vor allem wenn er der Hahn im Korb war, was bei der jetzigen Konstellation der Fall war. Keiner der Herren konnte es mit ihm aufnehmen, bislang zumindest nicht. Wie das ab morgen werden würde, wenn dieser Koblitz von der Zürcher Tantè eintraf, das wusste er nicht. Der kleine Kiffer und der völlig vergeistigte, junge Architekt, der stets im selben, wie er vermutete ungewaschenen, Outfit herumlief, waren nun wirklich keine Konkurrenten.
Der Kiffer hatte versucht Bettina anzubaggern, diese ebenfalls völlig aus der Spur geratenen Simulantin, die jedem auf den Nerv ging mit ihren morgen- und abendlichen Showeinlagen. Sie hatte ihn vor allen Anwesenden mit der Bemerkung, er stinke und solle duschen gehen, abblitzen lassen.
Gerade wollte er sich gedanklich dem Architekten widmen, dessen Name er sich nicht merken konnte, der aber Sohn und Alleinerbe eines erfolgreichen Bauunternehmers war, als Margarete sich neben ihm niederließ.
»So in Gedanken, mein Lieber«, flötete sie sogleich los, woraufhin er ein mehr als unverständliches Brummen von sich gab, sodass sie dies, je nach Bedarf, als Ja oder Nein interpretieren konnte. Sie erwartete wohl keine Antwort, und während er immer noch vor sich hin brummte, plapperte sie schon munter weiter. Sie erzählte von ihrer Absicht, am Nachmittag nach Romanshorn zu fahren, wo sie sich nach einem passenden Abschiedsgeschenk für einen Mitpatienten umsehen wolle. Sicher wollte sie, dass er sie begleitete, wäre es ihr doch angenehm, wenn er an der Kasse seine Kreditkarte zücken würde. Nun gut, vielleicht ließ sie sich danach ja doch zu einem kleinen Tête à Tête erweichen, apart war sie immer noch, wenngleich nicht mehr die Jüngste.

Kapitel 6
In Chur saß Dr. Franz Bürsli mit dem Leiter des Controllings zusammen, und ließ sich von diesem weiteres Einsparpotential bei der defizitären Wilhelm Tell Klinik erläutern.
»Ich verstehe nicht, warum Dr. Müller-Thurgau die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen nicht konsequenter umsetzt«, sagte der unscheinbar wirkende, in seiner Brillanz oft unterschätze Walter Stutz, fünfunddreißig-jähriger Leiter des Controllings.
»Von welchen Maßnahmen sprechen Sie«, hakte Dr. Bürsli nach.
»Schauen Sie sich bitte einmal die Einzelposten der Küche an. Ein Grand Hotel hat nicht solche hohen Ausgaben. Und dann ist mir da noch etwas aufgefallen, was sehr nach Vetternwirtschaft aussieht. Die Weine bezieht die Klinik vom Weingut seiner Frau. Wer sagt uns, dass da nicht überhöhte Preise berechnet werden«?
»Das ist ungeheuerlich«, schäumte der Finanzchef, »dem muss sofort Einhalt geboten werden. Der hochrote Kopf ließ auf einen ungesunden Blutdruck schließen.
»Aber am meisten ärgert es mich, dass er unsere Vorschläge, anstelle der teuren Psychopharmaka, viel mehr Placebos einsetzen soll, nicht umsetzt. Das ist wirklich ein Posten, an dem wir sehr viel Geld einsparen könnten«.
Dr. Bürsli überlegte, ob er diesen störrischen Müller-Thurgau nach Chur zitieren sollte, oder ob es nicht vielleicht besser wäre, sich selbst vor Ort einen Überblick zu verschaffen.
»Haben Sie Ihre Termine für die nächste Woche im Kopf«? wollte er von seinem Controlling-Leiter wissen.
»Im Kopf nicht, aber hier in meinem Mobiltelefon«, beeilte sich Walter Stutz zu antworten, während er gleichzeitig seinen Terminkalender aufrief.
»Ich bin die ganze Woche im Haus, und es gibt keinen Termin, der sich nicht verschieben ließe. Wann wollen Sie den Müller-Thurgau einbestellen«?
»Ich werde ihn nicht einbestellen, wir werden ihm in seiner noblen Klinik auf den Zahn fühlen, denn es ist an der Zeit, dass wir uns vor Ort einmal umsehen. Da liegt bestimmt noch mehr im Argen«, bekundete Dr. Bürsli seine Absicht.
Das war etwas nach Walter Stutz Geschmack, dem Säumigen Feuer unterm Allerwertesten zu machen. Er sah so lammfromm und brav aus, konnte aber giftig wie ein Taipan werden, wenn man sich ihm widersetzte. Im Gegensatz zur gefürchtetsten Giftschlange Australiens, deren Biss selten ist, musste schon mancher Kontrahent die Folgen tragen, was in der Regel den Verlust des Postens bedeutete.
Man einigte sich darauf, am darauffolgenden Dienstag ohne Vorankündigung der maroden Klinik und ihrem selbstgefälligen Chefarzt aufzuwarten
Derweil war Schwester Constanze Weilheimer dabei, die Medikamente für die Patienten zusammenzustellen, die das Wochenende außer Haus verbringen mussten. Irgendetwas erschien ihr merkwürdig zu sein, sie kam nur nicht gleich darauf, was es war. Erst als sie die Tabletten für Frau Sollheimer zusammenstellte dämmerte ihr, dass etwas nicht stimmen konnte. Die Hausapotheke hatte wohl den Lieferanten gewechselt, das Duloxetin war nun in einer, ihr gänzlich unbekannten Verpackung, und auch den Hersteller kannte sie nicht, als sie sich die Schachtel näher betrachtete. Die Zeit drängte, und so verschwendete sie keinen weiteren Gedanken daran.
Sie machte sich mehr Sorgen, wo ihre Kollegin blieb, die bereits seit über einer Stunde hätte da sein müssen. Hoffentlich war ihr nichts passiert. Sie mochte Schwester Marta, auch wenn diese mitunter sehr ungerecht sein konnte und eigene Fehler gerne den Kolleginnen und Kollegen unterschob. Ihr war nicht entgangen, dass Marta des Abends wohl gerne mal einen über den Durst trank und morgens mit einer leichten Alkoholfahne zum Dienst erschien. In letzter Zeit war sie allerdings fahriger als sonst und mit ihren Gedanken oft abwesend. Sicher, sie hatte es nicht leicht, alleinerziehend mit einem pubertierenden Teenager. Das hatte Marta mal in einem Gespräch zu erkennen gegeben, wobei sie es in der Regel vermied, viel von ihrem Privatleben preiszugeben.
Marta war an diesem Morgen mit einem üblen Kater aufgewacht. Der Streit mit ihrem Sohn am Abend zuvor hatte sie mehr konsumieren lassen, als sie es gewöhnlich tat, und dies war schon viel zu viel, aber gestern war es extrem gewesen. Ihr war speiübel, und sie fühlte sich nicht in der Lage aufzustehen. Noch immer hatte sie das Gefühl Karussell zu fahren, so drehte sich alles und nur mit Mühe gelang es ihr, den Brechreiz zu unterdrücken. Sie musste dringend in der Klinik Bescheid geben, damit man einen Ersatz für sie organisieren konnte, aber selbst dazu fühlte sie sich nicht in der Lage.
Margarete Sollheimer plagten derweil andere Sorgen. Sie musste dieses Wochenende zuhause verbringen, das bedeutete weitere Ausgaben, die sie sich nicht leisten konnte. Johnny Boy hatte ihr einen Korb gegeben, als sie ihn einladen wollte, dieses Wochenende gemeinsam zu verbringen. Er müsse zuhause einiges erledigen, hatte er erklärt und sei des Abends zu einem Veteranentreffen eingeladen, wo er nicht absagen könne, auch nicht absagen wolle, weil es sich einfach nicht gehöre, verdienten Kameraden den nötigen Respekt zu verwehren. Mit diesem Militärfimmel machte er sie ganz konfus. Sie konnte einfach nicht nachvollziehen, was die Männer an diesen ewigen Kampfübungen fanden. Seit dem letzten Weltkrieg war es zu keinen größeren militärischen Konflikten in Europa gekommen, ließ man mal den Balkankrieg außen vor. Und schließlich war die Schweiz auch im zweiten Weltkrieg nicht von Hitler heimgesucht worden.
Gottlieb Bühler packte in seinem Zimmer das Wenige, was er für das Wochenende benötigte, in seinen Rucksack. Sobald er das morgendliche Briefing hinter sich hatte, würde er auf dem schnellsten Weg an den Lago Maggiore fahren. Er hatte immer noch Gewissensbisse, dass er seinen Kollegen Bernardo unter Druck gesetzt hatte, so dass dieser sich, seiner Meinung nach, sicher genötigt sah, die Einladung auszusprechen. Er hatte eine unruhige Nacht hinter sich gebracht, in der er mehrfach aufgewacht war und hin und her überlegt hatte, ob er nicht in der Früh Bernado telefonisch absagen sollte. Eine Fahrkarte hatte er noch nicht gekauft, und theoretisch könnte er ja auch in Romanshorn oder St. Gallen in einem Hotel einchecken.
Aber was sollte er dann am Montag in der Einzelsitzung dieser nerventötenden Tost erzählen. Wenn er die Strapazen der Fahrt auf sich nahm, dann könnte er von seinen Panikattacken auf der Hin- und Rückfahrt erzählen, dann würden sie vielleicht nicht, zum gefühlt tausendsten Mal, wieder von ihm hören wollen, wie er den Überfall wahrgenommen hatte.
Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es an der Zeit war, sich nach unten zu begeben, das Frühstücksbuffet war um diese Zeit schon aufgebaut, und eine Tasse Kaffee konnte ihm nicht schaden, wenngleich diese ihn wahrscheinlich nicht unruhiger und nervöser machte, als er ohnehin schon war.
Mittlerweile war Adrian Nidwalden, den der Anruf der Stationsärztin buchstäblich aus den Armen seines Freundes gerissen hatte, in der Klinik eingetroffen und unterstützte Schwester Constanze bei der Zusammenstellung der Medikamente, die diese Arbeit hatte unterbrechen müssen, als die ersten Patienten aus ihren Zimmern auftauchten und ihre morgendliche Dosis unter ihren strengen Argusaugen einnahmen. Manche mussten zudem gewogen werden, bei wieder anderen waren Blutdruck und Zuckerwerte zu ermitteln.
Adrian hatte ihren fragenden Blick mit den Worten: »Mich hat Frau Doktor Wagenfeld, die Stationsoberärztin der geschlossenen Abteilung, angerufen und hierher beordert, weil jemand erkrankt sei«, beantwortet.
Dann war es bei Marta am Abend zuvor wohl ein Glas zu viel gewesen, ging es Schwester Constanze durch den Kopf.
Während sie sich um die Patienten kümmerte, die nun vermehrt vor der Tür darauf warteten, ihre Medikamente ausgehändigt zu bekommen, übernahm Adrian das Zusammenstellen der Wochenendrationen. Als er gerade dabei war, für Clarissa von der Thann die Medikamente zu richten und nach der Schachtel mit dem Diazepam griff, trat Schwester Constance an seinen Schreibtisch und stutzte. Wieso hatte er eine andere Packung als sie vorhin?
»Woher hast du das Diazepam«? fragte sie Adrian.
»Na, woher wohl«? antwortete er, leicht verwundert über diese seltsame Frage, und setzte hinzu, »aus der Klinikapotheke, oder glaubst du ich habe sie beim Tante-Emma-Laden an der Bushaltestelle geholt«?
»Wie kann das sein, dass du eine alte Schachtel hast, wo doch, bei der Lieferung heute früh, das Diazepam in der neuen Verpackung geliefert wurde«?
»Ich hatte vorgestern vergessen, das Diazepam in die Rücksendebox für die Apotheke zu legen. Als ich mit der Medikamentenzusammenstellung beschäftigt war, gab es irgendeinen Notfall, da habe ich die Packung wohl in meinen Kittel gesteckt, damit sie nicht offen hier herumlag. Als ich das bei Schichtende bemerkte, war die Transportbox längst abgeholt. Dann habe ich sie sicherheitshalber in der Handkasse eingeschlossen und gerade wieder herausgeholt«, klärte Adrian seine Kollegin auf.
»Ich wundere mich nur, dass in der Apotheke keinem aufgefallen ist, dass sie das Diazepam nicht zurückbekommen haben, denn sie müssen doch Listen führen über die Medikamente, die sie an die einzelnen Stationen ausgeben« bemerkte Constanze.
»Schau dich doch mal um, was hier abgeht», raunte ihr Adrian leise zu, »glaubst du bei denen ist es anders? Die sind personell genauso unterbesetzt wie wir auch. Da wird die eine oder andere Arbeit wohl auch nicht mehr ganz so sorgfältig ausgeführt werden«.
»Das möchte ich genauer wissen, aber dazu ist jetzt keine Zeit, wir müssen gleich zum Briefing. Erinnere mich daran, wenn hier Ruhe eingekehrt ist und bevor wir die Apothekenbox zurückgeben« antewortete Constanze.
»Na dann auf zur Runde der Klageweiber«, spottete Adrian.
Die Morgenrunde verlief in ihrer gewohnten Form. Die üblichen Patienten erklärten, schlecht geschlafen und von Albträumen geschüttelt worden zu sein. Der Architekt erschien in letzter Sekunde, wohl ungewaschen und ungekämmt lümmelte er gähnend in seinem Stuhl. Der zwanzigjährige Kiffer war, wie jeden Morgen, gut drauf, und die gleichaltrige Bettina Altdorf gab wieder ihr Bestes in der Rolle des herzerweichend jammernden Klageweibes. Das Jammern und Greinen stand im krassen Gegensatz zu dem fröhlichen Plappern, welches bereits vor dem Frühstück deutlich aus der Sitzecke des Stricknadelgeschwaders zu hören gewesen war.
Clarissa von der Thann, die die junge Freundin, mütterlich besorgt, an ihren Busen drücken wollte, wurde von der erhobenen Augenbraue Doktor Wagenfelds, welcher die Runde leitete, von ihrem Vorhaben abgehalten.
Als um halb zehn etwas Ruhe eingekehrt war, und, außer den Patienten, die das Wochenende in der Klinik verbringen durften, alle anderen abgereist waren, erinnerte Adrian Schwester Constanze daran, dass diese sich um das Diazepam kümmern wollte.
Während sich Constanze ansah, wie viele Riegel in den beiden Packungen waren, machte Adrian die entscheidende Entdeckung.
»Schau mal, das Ablaufdatum der alten Verpackung ist in zwei Jahren, das der neuen bereits in vier Monaten. Das kann doch wohl nicht sein, da stimmt was nicht, das ist nie im Leben dasselbe Präparat. Irgendetwas müssen sie an der Zusammensetzung geändert haben«, wies er Constanze auf seine Entdeckung hin.
»Mist, wir haben in beiden Packungen keine Beipackzettel, und das aufgedruckte auf der Verpackung ist so winzig, da braucht man ja einen Blindenhund, um das zu entziffern«, schimpfte Constanze leise vor sich hin.
»Das haben wir gleich«, sagte Adrian, der bereits die Fotoapp seines Handys gestartet und das erste Foto geschossen hatte. Keine zwei Minuten später hielten sie die stark vergrößerten Fotos ausgedruckt in ihren Händen und verglichen Buchstabe für Buchstabe die Zusammensetzung.
»Da ist kein Unterschied«, stellte Schwester Constanze frustriert fest.
»Ich glaub‘, ich hab´ da was«, sagte Adrian, der sich beide Verpackungen nochmal näher angesehen und bei der Neuen ein kaum sichtbares, winzig kleines .pl hinter dem Schriftzug Diazepam entdeckt hatte.
»Und was soll das bedeuten, hat man es in Polen hergestellt«? wollte Constanze wissen.
»Das wohl nicht, das wurde laut Verpackung beides in Frankreich hergestellt, ich denke eher, dass das winzig kleine .pl dem Apotheker signalisieren soll, dass es sich hierbei um Placebos handelt«, klärte Adrian seine Kollegin auf.

Fortsetzung folgt.