Lothar du Mont Jacques – Familie Heiland

Teil 2

Teil 2 – 2001

Kapitel 1 – Irene

Es war fast schon wieder Mitte Januar und in der Praxis entsprechend viel los. Die ganze Menschheit schien erkältet zu sein. Ich arbeitete von früh bis spät, den freien Mittwochnachmittag hatte ich vorübergehend ausgesetzt, sonst hätte ich es nicht geschafft. Bernds Patienten musste ich, soweit mir das als Allgemeinmedizinerin möglich war, mitbetreuen, noch war kein Nachfolger für seine Praxis in Sicht.
Bernd würde nicht mehr praktizieren können, soviel stand fest. Der Schlaganfall hatte ihn mitten aus dem Arbeitsleben gerissen, und seine Genesung ging nur langsam voran. Die Ärzte und Pfleger in Mainz kümmerten sich zwar intensiv um ihn, aber im Gegensatz zu mir, hatte er viel Zeit zum Grübeln und ich hatte den Eindruck, dass er zunehmend in eine schwere Depression abglitt. Darüber hatte ich mit Joachim, einem von Bernds Studienkollegen gesprochen, der als Oberarzt auf der Neurologischen am St. Elisabeth arbeitete.
„Er trauert um eure Tochter, du weißt ja selbst, wie sehr er an Katharina gehangen hat. Und der Verlust seiner Arbeitsfähigkeit kommt noch dazu, Zum Glück habt ihr keine finanziellen Sorgen, sonst würde ihn das zusätzlich auch noch belasten!“, hatte Joachim mir am gestrigen Abend am Telefon erklärt.
Wieder einmal hatte ich es nicht geschafft, nach der Praxis noch ins Krankenhaus zu fahren. Als der letzte Patient die Praxis verlassen hatte, war es bereits kurz vor Zwanzig Uhr. Also hatte ich wieder einmal auf der Station angerufen und Monika, die die Nachtschicht hatte, nach Bernds Zustand gefragt. Da sie offiziell ja keine Auskunft geben durfte, hatte sie mich mit Joachim verbunden.
„Ich trauere auch, oder meinst du, ihr Tod sei spurlos an mir vorüber gegangen“, hatte ich ihm geantwortet“, allerdings bin ich so eingespannt, dass ich abends nur noch todmüde ins Bett falle, und gar keine Zeit habe, mich der Trauer hinzugeben!“
„Warum sperrst du die Praxis nicht für einige Tage zu und kommst selbst mal zur Ruhe?“, Joachim klang mehr als ernst. Ich hörte den Vorwurf aus seiner Stimme, den Vorwurf mich selbst bis an den Rand der Erschöpfung zu treiben.
Ich wusste, dass ich die Praxis viel zu früh wieder geöffnet hatte, aber was hätte ich denn machen sollen. Bernd und ich teilten uns drei Arzthelferinnen, ich konnte die Mädels doch nicht in Zwangsurlaub schicken. Und selbst wenn wir keine Miete zahlen mussten, nicht nur die Gehälter, auch die Kosten für die beigen Leasingfahrzeuge, verschlangen einen Batzen Geld, Geld das erwirtschaftet werden musste.
„Joachim ich weiß, was du mir durch die Blume sagen willst“, wagte ich ihn zu unterbrechen, bevor er weitersprechen konnte. „So einfach wie du dir das vorstellst, ist es leider nicht. Die Kosten laufen weiter, ich muss sehen, dass Geld reinkommt. Ich weiß auch nicht, was Bernds Reha uns kosten wird.“
„Willst du auch einen Gehirnschlag riskieren, oder einen Herzinfarkt?“, brummelte er.
„Nein, natürlich nicht. Ich pass schon auf mich auf, versprochen!“ Im Hintergrund hörte ich den Alarm seines Piepsers, keine Minute darauf, hatten wir das Gespräch abbrechen müssen.
Zu all den Sorgen, die ich mir um Bernd machte, kamen auch noch die Sorgen um Markus und Michael, die immer noch auf die Dokumente wartend, die Markus Vormundschaft bestätigte, auf Zypern festsaßen. Josef war schon seit mehr als einer Woche wieder zurück in Oberhaching, er konnte sich den Betriebsausfall nicht länger leisten, und er musste sich auch um seinen Vater kümmern, der ja im Pflegeheim lebte.
Markus schien mit der Säuglingspflege gut zurecht zu kommen, was wohl auch daran lag, dass er häufig mit Judith telefonierte, und sie ihm auch in den drei Tagen, die sie über den Jahreswechsel zusammen verbracht hatten, die nötigen Handgriffe beigebracht hatte. Sobald er jedoch meinte, dass der Kleine krank sein könnte, rief er mich an. Dann hörte er sich angespannt an, selbst krank vor Sorge, etwas falsch zu machen. Aber ich konnte ihn jedes Mal beruhigen, den Symptomen nach, die er mir nannte, hatte der Kleine nichts anderes als Blähungen, was bei männlichen Säuglingen ja nichts Ungewöhnliches ist.
Heute war Samstag und ich konnte wenigstens etwas länger schlafen als an den Wochentagen. Allerdings hatte ich einen merkwürdigen Traum, der mir immer noch nachhing, als ich mich kurz vor acht, mit der Tageszeitung an den Frühstückstisch setzte, wo ich mir Bernds Abwesenheit schmerzlich bewusst wurde.
Das Frühstück war immer das Einstiegsritual ins Wochenende gewesen, selbst in der Zeit, als Bernd eine Affäre hatte und unsere Ehe auf der Kippe gestanden war. Ich hatte lange erwogen, mich von ihm zu trennen und mit den Kindern auszuziehen, mich aber letztendlich dazu aufgerafft, diese Krise als das zu sehen, was sie war, etwas, was fast jedem Paar einmal passierte.
Ich las in der Zeitung gerade einen Artikel über Ariel Scharon, der am sechsten zum Ministerpräsidenten Israels gewählt worden war, als das Telefon läutete.
Josef war zu dieser frühen Zeit an der Strippe, wollte wissen, wie es Bernd gehe und ob er irgendetwas tun könne.
„Das ist lieb von dir, dass du anrufst und uns deine Hilfe anbietest“, gab ich zur Antwort, „dabei hast du doch selbst genug um die Ohren. Wie geht es dir denn und was macht dein Vater“, wollte ich wissen.
„Mir fehlen Markus und der Kleine, meinem Vater geht es den Umständen entsprechend gut“, drang seine Stimme an mein Ohr. Wir telefonierten nahezu eine halbe Stunde, in der er mir von der tatkräftigen Unterstützung, die sie von Mosches Brüdern erhalten hatten, erzählte.
Nachdem ich aufgelegt hatte, fiel mir der Traum wieder ein. > Der alte Weizmann hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Michael in seine Gewalt zu bekommen. Markus und Josef waren daraufhin mit dem kleinen auf Flucht, entkamen immer nur knapp ihren Häschern. Irgendwie war auch der Mossad an dem ganzen beteiligt und am Schluss hatte Mosches Mutter mir erklärt, alles werde gut, ich solle mir keine Sorgen machen, ihr Mann wolle doch nur das Beste für seinen Enkel. <
Einige Stunden später erzählte ich Bernd von meinem Traum, der nichts dazu sagte, mir nur liebevoll die Hand streichelte. Bernd sprach immer noch wenig, wobei die Logopädin ihn dazu gedrängt hatte, mehr zu üben. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass man hörte, wie er kämpfen musste, um einzelne Worte zu formulieren, wobei es natürlich auch sein konnte, dass Teile seines Sprachschatzes für immer verloren waren, und er sich Worte und deren Bedeutung erst mühsam wieder würde erarbeiten müssen. Aber wir mussten einiges Besprechen, eine Lösung für die Praxis finden. Bislang hatte ich das Thema nicht angesprochen, nun musste es sein. Vorsichtig begann ich ihm klarzumachen, dass er wohl nie wieder würde praktizieren können, etwas, worüber er sich in seinen einsamen Stunden doch bestimmt auch schon Gedanken gemacht haben musste.
„Bernd, Liebling, ich weiß, dass dir das Sprechen schwer fällt, aber es gibt da eine Sache, über die wir reden müssen, die Praxis.“ Sofort traten ihm die Tränen in die Augen. Es half nichts, ich durfte jetzt nicht nachgeben, auch wenn es mir das Herz zerreißen wollte.
„Ich möchte einen Nachfolger für dich suchen, allein schaffe ich das nicht, schon wegen der unterschiedlichen Ausrichtung. Ich brauche wieder einen Internisten.“ Er drehte sich weg, was mich wütend machte. Er als Mediziner wusste doch nur zu gut, dass er nicht mehr würde praktizieren können. Warum also diese Sturheit, der Tatsache nicht ins Auge sehen zu wollen. Wir hatten schon seit Jahren Verfügungsvollmachten für den Fall der Fälle., aber mir wäre es lieber, wenn ich seine Zustimmung bekommen würde, als von der Vollmacht Gebrauch machen zu müssen.
Bernd, schau mich bitte an. Du weißt, dass es mir nicht leichtfällt, aber es hilft doch nichts, wir müssen den Tatsachen in die Augen sehen.“ Er drehte mir weiterhin den Rücken zu.
„Ich werde eine Annonce in der Ärztezeitung schalten.“ Ich wollte mich gerade verabschieden, als Joachim das Zimmer betrat.
„Dicke Luft?“, fragte er, noch bevor er mich in die Arme nahm um mich zu begrüßen, mit Küsschen auf beide Wangen, so, wie wir uns schon seit Ewigkeiten begrüßten. Immerhin drehte sich Bernd jetzt wieder um, und artikulierte schwerfällig, „sie will einen Nachfolger für mich suchen, mich aus meiner eigenen Praxis werfen!“
„Davon kann wohl keine Rede sein“, sagte Joachim in einem Ton, der keine Widerrede zuließ, „Irene rackert sich von morgens bis abends ab. Niemand will dich aus deiner Praxis werfen, aber du wirst dich damit auseinandersetzen müssen, dass du nicht mehr arbeiten kannst. Du kannst von Glück sagen, dass du noch am Leben bist, es hätte auch anders ausgehen können!“ Endlich hatte er Tacheles gesprochen, jetzt lagen die Fakten auf dem Tisch.
„Ich will in der Ärztezeitung eine Anzeige schalten und hoffe schnellstens jemanden zu finden der die Praxis übernehmen will, und die Ablöse zahlen kann.“
„Das ist eine hervorragende Idee. Vielleicht solltest du aber auch noch in einigen anderen Zeitungen inserieren, du weißt ja selbst, wie das mit der Ärztezeitung ist, wir haben sie alle im Abo, aber die meisten schauen nur dann rein, wenn auf dem Titelblatt auf einen Artikel hingewiesen wird, der einen interessiert. „Und du“, wandte er sich an Bernd, „hörst auf mit deinem Schicksal zu hadern und unterstützt Irene! Das erwarte ich von dir, hast du mich verstanden?“, dabei blickte er Bernd mit funkelnden Augen an. Bernd sagte nichts, nickte aber leicht mit dem Kopf.
Bernd und Joachim waren schon seit ihrer Studienzeit die dicksten Freunde und hatten da wohl auch den einen oder anderen Unfug zusammen angestellt, wie sie bei Partys immer wieder erzählt hatten. Und gerade wegen Joachim und noch weiteren Kollegen, die alle im Elisabeth arbeiteten, hatte Bernd in dieses Krankenhaus gewollt. Wenn Joachim ihm die Leviten ließ, hatte das einen ganz anderen Stellenwert, als wenn ich, als seine Frau das machte. Ihm konnte er nicht zum Vorwurf machen, ihn aus seiner Praxis drängen zu wollen.
Als ich abends wieder zuhause war, begann ich direkt die Anzeige zu formulieren, kam jedoch nicht ganz klar damit. Was sollte ich schreiben: aus persönlichen Gründen oder krankheitsbedingt? Ich wollte die Anzeigen in der Mainzer Allgemeinen, der Ingelheimer-, sowie auch der Binger- und vielleicht auch der Kreuznacher-Ausgabe schalten. Ich beschloss, erst einmal darüber zu schlafen, morgen war auch noch ein Tag.

Kapitel 2 – Bernd

Von meinem Fenster aus konnte ich in den Park sehen, der jetzt, Mitte Februar einen trostlosen Eindruck machte, im Sommer aber, wenn alles grün war und die Pflanzen in voller Blüte standen, bestimmt zum Vereilen einlud.
Ich war nun bereits die zweite Woche hier, in der Rehaklinik in Bad Camberg, zu der mir Joachim geraten hatte, da man in Mainz nichts mehr für mich tun konnte. Die waren ja, für Akutfälle ausgelegt, ich war ja berm Berg und brauchte jetzt Physio- und Logotherapie, außerdem psychotherapeutische Unterstützung.
Es war nicht nur der Tod Katharinas, auch der Verlust meiner Arbeitsfähigkeit, hatte mich in eine tiefe Depression fallen lassen. Nicht einmal der Gedanke daran, nun Opa zu sein, hatte meine Stimmung aufhellen können. Die Umstände, die dazu geführt hatten, dass mein Enkel nun in Deutschland aufwachsen würde, waren alles andere als erfreulich. Beide Elternteile tot, in Bälde vom schwulen Onkel adoptiert, was würde den kleinen Michael in seinem Leben erwarten?
Zugegebenermaßen hatte Josef einen guten Eindruck bei mir hinterlassen, als er bei seinem ersten und bis dato einzigen Besuch, davon erzählt hatte, wie sein Vater ebenfalls durch einen Schlaganfall von eben auf gleich nicht mehr in der Lage war die Schreinerei weiterzuführen. Wie er sich um den Vater gekümmert und parallel dazu den Laden übernommen hatte., dass ihm dabei die Frau weggelaufen sei. Ich wusste nur immer noch nicht, wieso Markus und er ein Paar geworden waren, Josef wirkte alles andere als schwul, was man von meinem Sohn nicht unbedingt behaupten konnte.
Morgen sollte ich meinen Enkel kennen lernen, Markus war mit dem Kleinen Anfang des Monats endlich in Oberhaching angekommen, nachdem er wochenlang auf Zypern festgesessen hatte. Seit seinem Besuch in der Klinik in Sofia, hatte ich ihn ja nicht mehr gesehen aber auch nicht mit ihm gesprochen, da es mir immer noch schwerfiel, mich auszu-drücken und an Telefonieren kaum zu denken war.
Einzig mit Irene telefonierte ich, sie hatte gelernt, aus meinem Gebrabbel herauszuhören, was ich krampfhaft zu artikulieren versuchte.
Irene managte alles. Zunächst war ich auch froh darüber, dann aber auch wieder verärgert, weil es ihr nicht schnell genug ging, einen Nachfolger für meine Praxis zu finden. Joachim hatte mir gehörig den Kopf gewaschen, mich daran erinnert, dass ich mich glücklich schätzen konnte, sie als Frau zu haben. Nicht jede Frau hätte sich es gefallen lassen, dass der Gatte über mehrere Monate ein Verhältnis mit der Nachbarin pflegte. Jede andere, so hatte er gesagt, hätte sofort die Koffer gepackt, eure Kinder ins Auto gesetzt, bei Freunden oder Verwandten Unterschlupf gesucht und die Scheidung eingereicht.
Stattdessen war sie geblieben, hatte ihr Studium erfolgreich zu Ende gebracht und ihre eigene Praxis eröffnet. Sie hatte dabei den schlechteren Part erwischt, denn ihre Patienten, die meistens auch meine waren, erwarteten, wenn sie krank waren, dass Irene sie zuhause besuchte.
Ich als Internist beschränkte mich von jeher darauf, die Patienten in meiner Ordination zu empfangen. Außerdem verdiente ich mit den zahlreichen Magen- und Darmspiegelungen gutes Geld, während Irenes Einsatz meistens mit den schlechten Pauschalen vergütet wurde.
Es war ein auf und ab mit meinen Gefühlsschwankungen, was unter anderem auch daran lag, dass ich mich beharrlich weigerte, die Psychopharmaka, die man mir medikamentieren wollte, zu schlucken. Dass man davon nicht abhängig werden würde, brauchte mir keiner zu erzählen. Ich hatte in meiner Praxis zu viele Patienten, die süchtig nach diesen Pillen waren, egal ob sie sedierend oder aufhellend wirkten. Die dunklen Gedanken hatte ich eh meist nur in den frühen Morgenstunden, wenn ich gegen vier Uhr aufwachte und dann bis sechs Uhr grübelnd im Bett lag. Spätestens um kurz nach Sieben ging es mir schon etwas besser, wenn ich im Speisesaal meine Tischnachbarn traf, Sigrid, eine von den dreien war trotz ihrer Parkinson Erkrankung immer guter Laune, während Silvia, die an Multiple Sklerose litt, noch trübsinniger war als ich. Auch Peter, der gestern erst neu zu uns gestoßen war, hatte beim Abendessen einen ausgeglichenen Eindruck auf mich gemacht.
Um halb Neun hatten wir Stationsrunde, wo wir uns alle in einem der Gruppenräume zusammen mit einem der Therapeuten sowie jemanden von der Stationsleitung versammelten und jeder in einem kurzen Statement darüber berichtete, wie er die Nacht verbracht hatte und was ihn gerade beschäftigte. Den Rest des Tages verbrachte jeder von uns entweder in Einzeltherapie oder in Gruppensitzungen, je nachdem welche Vorerkrankung vorlag und wozu der Einzelne körperlich fähig war. Ich war in der Gestaltungsgruppe gelandet, wo wir nach Vorgabe eines Themas Bilder malten, und diese anschließend zusammen mit dem Therapeuten und der Gruppe gedeutet wurden. Da ich nie zuvor so etwas gemacht hatte, war es für mich schon sehr erstaunlich, was man da so alles raus lesen konnte. Am meisten halfen mir die Gruppen-sitzungen, denn dort relativierten sich meine Probleme ganz schnell, wenn ich hörte, was die Anderen so alles mitgemacht und woran sie zu knabbern hatten.
Was mich natürlich auch beschäftigte, war Katharinas Verhalten hinsichtlich des Übertritts zum Judentum. Warum hatte sie uns das verschwiegen, genauso wie ihre Absicht diesen Mosche zu heiraten. Mosche war Journalist gewesen, hatte wohl für die Jerusalem Post, eine der großen israelischen Tageszeitungen geschrieben. Wir kannten weder ihn noch seine Familie, die wohl sehr einflussreich war, wie Irene mir erklärt hatte. Vor allem aber war ich darüber mehr als enttäuscht, dass sie offenbar kein Interesse mehr daran hatte, in meine Praxis einzutreten. Als sie ihr Grundstudium beendet hatte, und bevor sie nach Israel gegangen war, um dort ihren ABK zu absolvieren, war dies der Plan gewesen. Was ich auch nicht nachvollziehen konnte, war wieso sie anstelle im dem im Westen Jerusalems gelegenen Misgav Ladach Krankenhaus, wo ihre eine Stelle angeboten worden war, in Bethlehem im Heilige Familie gearbeitet hatte. Irgendwie passte das alles nicht so recht zusammen.
Irene hatte mir gestern am Telefon erzählt, dass sie einen Interessenten für die Praxis gefunden hatte, einen indisch stämmigen Mediziner, der außer seinem Facharzt als Internist, auch ayurvedische Heilkunde praktizierte. Aus ihrer Sicht eine gute Ergänzung zu ihrer Hausarztpraxis. Er war wohl in der Lage die Ablösesumme zu zahlen, die wir uns vorstellten.
Um den Mietvertrag musste sich unser Anwalt kümmern und auch unser Steuerberater musste in das Geschehen involviert werden, damit es bei der nächsten Steuererklärung keine böse Überraschung geben würde. Auch das hatte sie schon alles in die Wege geleitet und morgen würde sie mir bestimmt mehr sagen können, sofern sie dazu Gelegenheit haben würde.

Kapitel 3 – Irene

So ein süßer Bengel, der zarte schwarze Haarflaum, dazu diese bernsteingesprenkelten braunen Augen, diesen Buben musste man einfach auf den ersten Blick liebhaben. Er wusste noch nichts, von alldem, was er in seinen wenigen Monaten schon alles erlebt hatte, dass seine Eltern tot waren und seine israelischen Onkel seinem Adoptivvater geholfen hatten, ihn den Säugling aus dem Land herauszuschmuggeln und nach Zypern zu bringen, wo er sehnsüchtigst erwartet wurde. Ich hielt zum ersten Mal meinen Enkel im Arm und wollte ihn am liebsten nicht mehr hergeben.
Markus sah blass und abgemagert aus, „er bekäme vielleicht zu wenig Schlaf“, hatte er mir auf meine, mit einem kritischen Blick untermauerte Frage nach seiner Gesundheit, geantwortet. Als er aber kurz im Bad verschwunden war, hatte mir Josef anvertraut, dass Markus offenbar von Alpträumen geplagt wurde, aus denen er schweißgebadet aufwachte. Die Frage, ob er denn in ärztlicher Obhut sei, verneinte Josef.
„Irene, du darfst mir glauben, ich rede mir den Mund fusselig, aber sobald ich das Thema auch nur anschneide schaltet Markus auf stur. Dann hat er tausend Argumente warum er jetzt gerade keine Zeit hat zum Arzt zu gehen“, resignierend zog er die Schultern hoch.
„Oh ja, ich kenne meinen Sohn, Stur wie ein Esel kann er sein“, ich strich dabei meinem Enkel liebevoll über den Kopf, „Katharina war genauso, Zwillinge eben. Bleibt zu hoffen, dass der Kleine hier nicht genauso veranlagt ist und mehr von Mosches Genen mitbekommen hat.“
„Warum mehr von Mosches Genen?“, begehrte Markus zu wissen, der, ohne dass wir es bemerkt hatten, längst wieder zu uns gestoßen war.
„Damit er nicht ganz so stur ist wie du, und wie es deine Schwester auch sein konnte!“
„Ich bin doch nicht stur“, brauste Markus auf und sah dabei um Hilfe heischend zu Josef, der nur spöttisch lächelte, sich aber eines Kommentars enthielt.
Der Kleine fing an zu greinen, und mir stieg ein unangenehmer Geruch in die Nase.
„Da braucht jemand eine frische Windel und Zeit fürs Fläschchen dürfte es wohl auch sein“, sagte ich zu Markus und wollte zur Treppe, um Michael im Obergeschoss, in Katharinas ehemaligen Zimmer, welches ich wieder in ein Kinderzimmer umgestaltet hatte, frisch zu machen.
„Mama, wo willst du hin?“, hörte ich Markus.
„Nach oben, um meinen Enkel frisch zu machen“, beantwortete ich seine Frage.
„Aber das ist doch meine Aufgabe…“, mehr konnte er nicht mehr sagen, denn da hatte sich Josef schon in das Gespräch eingemischt und meinte zu ihm:
„Lass‘ das mal die Oma machen. Du setzt dich jetzt mal auf deinen Hintern und hältst die Füße still. Das Fläschchen mache ich derweil fertig“, dabei sah er zunächst Markus streng und danach mich fragend an.
„Steht alles in der Küche bereit!“, damit ließ ich die beiden allein und stieg mit meinem Enkel im Arm die Treppe zum Dachgeschoss hoch.
Als ich mit einem frisch gewickelten Michael wieder runter kam und einen Blick ins Wohnzimmer warf, sah ich Markus, der schlafend, in schlechter Haltung im Sessel hing. Morgen würden ihm sicher sämtliche Knochen weh tun.
„Du hast ja wirklich an alles gedacht“, sagte mir Josef, keine zwei Minuten später, dabei auf das Babyfone deutend, welches eingeschaltet, auf dem Bord zwischen Gewürzdosen, Pfeffer- und Salzmühlen, Ölen und Essigflaschen seinen Platz erhalten hatte.
„Hast du etwa die vertraulichen Gespräche zwischen meinem Enkel und mir belauscht?“
„Von einem Gespräch habe ich nichts mitbekommen, das klang eher wie ein Monolog“, dabei prüfte er die Temperatur des Fläschchens, indem er es sich an die Wange drückte.
„Passt, genau richtig, willst du ihn füttern?“
„Was für eine Frage, klar wollte ich das“, ich setzte mich mit dem Kleinen im Arm auf einen der alten Küchenstühle, die so manches zu erzählen hätten, wenn sie reden könnten. Josef reichte mir das Fläschchen, strich dem Knaben zärtlich über den Kopf und setzte sich mir gegenüber.
„Wie geht es Bernd, macht er Fortschritte?“, wollte er wissen.
„Peu á peu geht es voran, er ist genauso ungeduldig wie du es von Markus kennt, der Apfel…“.
„… fällt nicht weit vom Biernbaum“, ergänzte Josef den Satz. Dann wollte er wissen, wieweit ich denn mit meinen Annoncen gekommen sei und so berichtete ich ihm von Dr. Sahdi, der einer unter vielen gewesen war, die sich auf die Anzeigen hin gemeldet hatten, mir aber am besten gefiel, vor allem, weil er mit der indischen Heilkunst eine wirkliche Bereicherung für unsere Gemeinschaftspraxis sein würde.
„In der Stadt kann ich mir so etwas ja durchaus vorstellen, aber hier auf dem Land? Ist das nicht etwas gewagt?“, Josef warf mir einen fragenden Blick zu.
„Hältst du uns für Hinterwäldler?“, spöttisch grinsend zog ich dabei meine Augenbrauen hoch. Michael hatte seine Flasche inzwischen ausgetrunken.
„Um Himmels willen, nein, so habe ich das doch nicht gemeint“, beeilte sich Josef meine Frage zu beantworten. Ich erzählte ihm dann in Kurzform, wie es um die Ärzteschaft im Landkreis Mainz-Bingen bestellt ist, und das ich mir schon sehr gut vorstellen konnte, dass sich etliche Patienten, vor allem die jüngeren und auch die von der Esoterik-Fraktion, einer alternativen Heilmethode gegenüber offen zeigen würden. Michael, den Josef sich über die Schulter gelegt hatte, war, nachdem er sein Bäuerchen gemacht hatte, eingeschlafen.
„Magst du euren Sohn nicht nach oben bringen und in sein Bettchen legen, da schläft er bestimmt besser“, ich sah Josef fragend an.
„Ja, klar, gute Idee“, antwortete er und ließ mich allein in der Küche zurück.
„Unser Sohn hat sie gesagt…,“, klang kurze Zeit später Josefs verzerrte Stimme aus dem Baybfone. Und kurz danach hörte ich, wie die Tür leise geschlossen wurde. Das erinnert mich an die Zeit, als Markus und Katharina noch Säuglinge waren, und Bernd und ich ihren Geräuschen gelauscht hatten. Stets war es Katharina gewesen, die als erste erwacht und laut brüllend nach Futter und einer frischen Windel verlangt hatte. Katharina, nur acht Minuten älter als Markus, war stets diejenigen von den Beiden gewesen, die als erste Ansprüche nach Aufmerksamkeit geltend machte, als erste krabbelte, mit dem Sprechen begann. Auch später in der Schule, hatte sie schneller gelernt, eher die Zusammenhänge begriffen. Markus war in allem eine Spur langsamer, ohne dass er dabei weniger intelligent gewesen wäre. Die beiden standen sich unglaublich nahe, was mir begründeten Anlass gab, dass Markus Alpträume, mit dem Abschalten der Apparaturen zusammenhing. Der Junge brauchte einen Psychotherapeuten, eine weitere Baustelle, um die ich mich würde kümmern müssen. Das würde ihm zwar nicht passen, aber da durfte ich nicht lockerlassen. Michael hatte Anspruch darauf, einen gesunden Papa zu haben, auch wenn der nicht sein leiblicher war.
Ein Blick zur Uhr genügte, um mich daran zu erinnern, dass es höchste Zeit wurde, dass ich mich um das Abendessen kümmerte, wobei ich nicht wirklich Lust zum Kochen hatte. Im Winzereck konnte man passabel essen, allerdings schlief der Kleine jetzt und ihn dorthin mitzunehmen, war vielleicht auch keine so gute Idee. Da war es besser, wenn ich die Jungs dorthin schickte, dass sie uns etwas holten. Ich entschied mich dann doch, selbst zu fahren, da Josef ebenfalls einen müden Eindruck machte, als er wieder zu mir in die Küche trat.
Als ich mit dem Essen zurückkam, war Markus schon wieder wach. Josef hatte den Tisch in der Essecke, im Wohnzimmer gedeckt.
„Das riecht aber sehr verlockend“, hörte ich von meinem Sohn, „was gibt’s denn Leckeres?“
„Etwas von dem ich weiß, dass du es schon seit deiner Kindheit magst, Schnitzel.“
„Das mag ich auch gerne“, schaltete sich Josef in unser Gespräch mit ein.
„Und ich dachte immer, ihr Bayern steht mehr auf Haxen mit Knödel und Kraut“, neckte ich ihn.
„Eher Schweinsbraten, Haxen sind zu fett“, bekam ich zur Antwort. Aha, mein ‚Schwiegersohn‘ achtete also auf seine Linie, dabei hatte er das doch gar nicht nötig.
„Mama, Josef hat mir vorhin erzählt, dass du einen Inder in die Praxis aufnimmst, wie kommt’s?“, Markus schaute mich fragend an.
„Erzähl‘ ich dir gleich, nehmt euch was zu trinken und setzt euch“, dabei verteilte ich das Fleisch und die Beilagen auf den Tellern, die mir Josef wieder zurück in die Küche gebracht hatte.
„Was trinkst du?“, wollte Markus wissen.
„Das Gleiche wie ihr“, antwortete ich, wobei ich Josef zwei Teller in die Hände drückte und mit dem Dritten die Essecke im Wohnzimmer ansteuerte. Zwischen den Bissen klärte ich meinen Sohn dann über den Stand der Dinge auf.
„Josef hatte schon seine Bedenken wegen Provinz und so geäußert…“, da wurde ich aber auch schon von Markus unterbrochen.
„Provinz“, wandte er sich an Josef, „willst du damit etwa sagen, dass du mit einem Hinterwäldler zusammenlebst?“, dieses Funkeln in seinen Augen kannte ich nur zu gut. Wie oft hatte er damit schon zum Ausdruck gebracht, dass das Gesagte nicht so zu verstehen war. Josef, der sich gerade eine weitere Gabel in den Mund geschoben hatte, konnte darauf nicht antworten, so dass ich an seiner Stelle Markus erklärte, dass ich genauso reagiert hatte.
„Der Apfel fällt nicht weit…“, neckte Markus mich. Wobei er, natürlich nicht Unrecht hatte, Teile seines schnell aufbrausenden Temperamentes hatte er sicherlich auch von mütterlicher Seite mitbekommen.
Bernd war von jeher der Besonnenere gewesen, nicht nur im Umgang mit den Kindern und Freunden, auch was unsere Patienten anbelangte. Da konnte ich auch schon mal aus der Haut fahren, wenn der Eine oder andere partout den Sinn einer vorgeschlagenen Behandlung nicht begreifen wollte. Vor allem bei unseren Patienten, die mit Suchterkrankungen zu kämpfen hatten, war eine klare Sprache angebracht und wenn ich da auf taube Ohren stieß, konnte ich buch-stäblich durch die Decke gehen. So manche Ehefrau, deren Mann zu viel trank, kämpfte selbst mit ihrer Sucht nach Essbarem, was sich schon im Umfang bemerkbar machte und sich nicht erst auf der Waage zeigte.
Oder diese Nerds, die man nicht mehr vom Bildschirm loseisen konnte, ganz zu schweigen von den Teenagern, die sich nur noch mit ihren Smartphones beschäftigten.
„So war das doch gar nicht gemeint“, sagte Josef, sobald er den Mund leer hatte. „Weiß ich doch“, gab Markus grinsend zurück. „Mittlerweile solltest du mich doch gut genug kennen, um an meinem Gesicht ablesen zu können, wann etwas ernst gemeint ist oder nur im Scherz gesagt wurde.“
Obwohl die Beiden müde waren, wurde es doch noch ein langer Abend, bis wir kurz vor Mitternacht endlich alle in unseren Betten lagen.

Kapitel 4 – Josef

Markus und Michael waren erst am zwanzigsten Januar aus Zypern gekommen. So lange hatte es gedauert, bis die Vormundschaftspapiere ausgefertigt waren und von Markus im Konsulat in Nikosia abgeholt werden konnten.
Es war für uns alle eine Zitterpartie, allein schon deshalb, weil es von Israel aus ja nur ein Katzensprung bis Zypern war und wir nicht wussten, welche Anstrengungen Michaels israelischer Großvater unternehmen würde, um seinen Enkel unter seine Obhut zu bringen.
Ich selbst war, wie es der ursprüngliche Plan auch vorgesehen hatte, am sechsten zurück gekommen und hatte als erstes meinen Vater im Heim besucht, den ich zuletzt in der Woche vor unserer Abreise gesehen hatte. Ihm ging es den Umständen entsprechend gut, wobei sich allerdings erste Anzeichen einer beginnenden Demenz bemerkbar machten.
Dies merkte ich daran, dass er mit dem Namen Markus überhaupt nichts anfangen konnte. Als ich ihm erzählte, dass Markus nun ein Baby zu versorgen hatte, sah er mich nur verständnislos an.
Bei einem Gespräch mit der Heimleitung wurde aus meiner Vermutung Gewissheit. Die Leiterin wollte dem Arzt nicht vorgreifen, der könne mir sicherlich mehr über den Gesundheitszustand meines Vaters sagen, beschied sie mir, aber so viel sei sicher, der Prozess schreite mit großen Schritten voran. Mit dem behandelten Arzt hatte ich am nächsten Tag ein längeres Telefonat, in dem er mir die Aussage der Heimleiterin bestätigte.
Es war schwer für mich, den Tatsachen ins Auge zu sehen und mich mit dem unvermeidbaren auseinander zu setzen, über kurz oder lang würde Papa mich nicht mehr erkennen. Schlimm war vor allem, dass Markus nicht da war, der mich sicher tröstend in den Arm genommen hätte.
Mit ihm telefonierte ich natürlich jeden Tag. Seine Situation war noch bescheidener als meine, keiner wusste wie lange das mit den Papieren noch dauern würde. Hinzu kam, dass er sich ganz ohne jegliche Hilfe, rund um die Uhr, um den Kleinen kümmern musste.
Nachdem er mich am sechsten zum Flughafen gebracht hatte, war er mit dem Kleinen nach Nikosia gefahren, um sich dort, in der Nähe der Deutschen Botschaft, ein preiswertes Hotel zu suchen. Als er mich abends anrief, berichtete er mir, dass es in unmittelbarer Nähe gar keine Hotels gäbe und er im Castelli abgestiegen wäre.
Markus hatte sich eine Zermürbungsstrategie zu Recht gelegt, er wollte jeden Morgen mit Michael die Botschaft aufsuchen, um den Mitarbeitern dort vor Augen zu führen, in welcher Lage sich die Beiden befanden. Ich hatte mein Zweifel, dass sich deutsche Beamte durch eine sanfte Belagerung – anders konnte man Markus‘ Vorhaben nicht bezeichnen – aus der Ruhe bringen lassen würden. Ich sollte Recht behalten, am dritten Tag schon bat man Markus die Botschaft nicht mehr aufzusuchen, bis man sich telefonisch bei ihm gemeldet hätte.
Von dem Tag an war es für ihn noch frustrierender. Zur Botschaft hatte er Michael in einem Baby-Korb mitgeschleppt, Spaziergänge konnte er damit aber nicht unternehmen. Nun wäre Markus nicht Markus, wenn er dieses Problemchen nicht hätte lösen können. Eines der Zimmermädchen bot ihm an, ihm den momentan nicht in Verwendung befindlichen Kinderwagen zu leihen. Von ihr hatte er auch einiges an Kinderkleidung bekommen, aus der ihr Jüngster herausge-wachsen war.
Nachdem dies auch geklärt war, konnte ich mich endlich wieder meiner Firma widmen, wo sowohl der Jahresabschluss gemacht werden musste als auch einige Kunden darauf warteten, dass ich ihre Aufträge zu Ende brachte.
Das Kinderzimmer musste ja auch eingerichtet werden. Eigentlich wollte ich die Wiege für unsere Kinder selbst bauen, das hatte ich mir fest vorgenommen, als ich meine Frau geheiratet hatte. Nur war es nie dazu gekommen, die kurze Zeit, die wir zusammen gewesen waren, hatte nicht dazu gereicht, ein Kind zu zeugen. Mit der Familiengründung wollten wir warten, bis ich meinen Meister in der Tasche hatte. Aber die Dinge hatten sich ja verselbständigt, Martina war weg, und ich jetzt mit Markus zusammen. Und seit Heiligabend waren wir nun Eltern.
Eine Baustelle musste auch noch in Angriff genommen werden, Martina und ich waren immer noch miteinander verheiratet. Ich würde sie anrufen müssen, vielleicht konnten wir die Scheidung ja mit einem gemeinsamen Anwalt über die Bühne bringen.
Markus sah müde aus, als er mit dem Kleinen die Wartehalle betrat, wo ich seit über zwei Stunden auf und ab tigerte, immer wieder auf die Anzeigetafel blickend, in der Hoffnung, dass der Flieger doch früher ankommen würde, als dort angezeigt wurde.
Die Maschine war mit mehr als einer Stunde Verspätung in Larnaca gestartet, verursacht durch ein technisches Problem. Eine Anzeige hatte aufgeleuchtet, was aber glücklicherweise behoben werden konnte, da es sich nur um ein defektes Birnchen gehandelt hatte.
„Willkommen zuhause“, begrüßte ich meine kleine Familie, umarmte und küsste erst Markus, der die Trage mit dem Kleinen, dafür kurz abgestellt hatte, und bückte mich dann zu unserem Sohn, um diesen ebenfalls mit einem Küsschen in seiner neuen Heimat willkommen zu heißen.
Die Fahrt vom Flughafen nach Oberhaching zog sich auch in die Länge, zahlreiche Wintersportler auf dem Weg in die Alpen hatten schon den ganzen Tag über für stockenden Verkehr gesorgt und selbst am Abend schien der Verkehr nicht weniger geworden zu sein. Bis wir endlich zuhause waren, ging es schon auf einundzwanzig Uhr zu, Zeit, um den Kleinen zu baden, ihm die Flasche zu geben und ihn dann in seiner Wiege aus dem Möbelhaus, schlafen zu legen.
Die Versorgung des Kleinen hatte ich übernommen, damit Markus in der Zwischenzeit sich duschen und umziehen konnte. Um unser Abendessen hatte ich mich schon am Vormittag gekümmert, der Gemüseauflauf brodelte derweil im Ofen.
Als ich Markus nachschenken wollte, schüttelte dieser den Kopf und sagte, „denk‘ dran, Michael meldet sich spätes-tens in drei Stunden, das ist sein Rhythmus, indem er nach Futter und einer frischen Windel kräht.
„Au backe, daran hab‘ ich überhaupt nicht mehr gedacht“, antwortete ich, „das übernehme ich heute Nacht, du schläfst dich mal wieder richtig aus!“
„Glaubst du allen Ernstes, das ich schlafen kann, wenn mein Sohn kräht?“
„Du solltest dich daran gewöhnen, es ist schließlich auch mein Sohn“, dabei schenkte ich meinem Schatz einen Luftkuss.
„Vielleicht sollten wir es uns angewöhnen, abends auch zeitig zu Bett zu gehen, zumindest so lange, bis Michael durchschläft“, meinte Markus, meinen Luftkuss erwidernd.
„Dann sollten wir gleich damit anfangen, mir wäre nach richtigem Küssen und vielleicht auch etwas mehr“, antwortete ich, und nahm ihn dabei an den Händen, um ihn gleich in unser Schlafzimmer zu ziehen.
Die Nacht war dann wirklich sehr kurz, Markus hatte nicht übertrieben, gefühlte zwei Minuten, nachdem ich eingeschlafen war, wurde ich durch den kräftigen Ton, den unser Sohn am Leib hatte, auch schon wieder geweckt. Markus, der bereits ein Bein aus dem Bett hatte, zog ich wieder zurück und hieß ihn liegen zu bleiben und weiterzuschlafen, was er dann auch tatsächlich machte.
Ich genoss diese nächtlichen Minuten mit unserem Sohn, dann hatte ich ihn für mich allein, erzählte ihm von seinen Großeltern, auch wenn er es noch nicht verstand.
Dass George W. Busch an diesem Tag als dreiundvierzigster Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wurde und auf den Philippinen Präsident Joseph Estrada unblutig gestürzt wurde, waren Trivialitäten im Vergleich zu unserer endlich wieder vereinten Familie.

Kapitel 5 – Markus

Als wir gestern von Oberhaching Richtung Rheinland gefahren waren, hatten wir im Autoradio gehört, dass amerikanische und britische Lufteinheiten, Ziele in der Nähe Bagdads bombardiert hatten, als Reaktion auf die Verletzung des Flugverbotes seitens des Iraks.
Im Nahen Osten brodelte es mal wieder gewaltig, wobei sich mir als Journalisten die Frage aufdrängte, ob der Konfliktnicht in Wirkichkeit von dem Amis angezettelt worden war, damit die mal wieder ihre neuesten Waffensysteme ausprobieren konnten.
So sehr ich immer noch den Tod meiner Schwester und meines Schwagers betrauerte, war ich auf der anderen Seite nicht unglücklich darüber, dass es Michael erspart geblieben war, in Israel aufzuwachsen. Dort wäre er ständig der Bedrohung eines neuen Krieges ausgesetzt gewesen, da sowohl die Araber als auch die Israelis ständig Öl ins Feuer gossen. Auch stand zu bezweifeln, dass es unter dem Zionisten Scharon besser werden würde, dieser galt als Hardliner, war schon in der Hagana aktiv gewesen und hatte ab 1952, unter Mosche Dajan, hinter feindlichen Linien auf Kommandoebene gekämpft. Von ihm erwartete ich nicht, dass er die Friedenstauben aufsteigen lassen würde.
Zweimal hatte Michael in der letzten Nacht nach seiner Flasche verlangt, mittlerweile schlief er nahezu vier Stunden am Stück.
Meine Mutter hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn in der Zeit, die wir bei ihr verbrachten, zu versorgen, so dass ich mich am Morgen, seit längerer Zeit mal wieder so etwas wie ausgeschlafen fühlte, obwohl es noch sehr früh war, als ich auf den Wecker blickte. Josefs Atem verriet mir, dass er noch tief schlief. In mir erwachten gewisse Begehrlichkeiten und so entschied ich mich dazu, näher an ihn ran zu kuscheln, vielleicht wachte er ja bald mit ähnlichen Gefühlen auf.
Als wir gegen neun Uhr zum Frühstück erschienen, hatte meine Mutter schon den Tisch gedeckt und sah ihrem Enkel beim Schlafen zu, der mit geballten Fäustchen in einem Reisebett lag.
Während wir frühstückten, machten wir einen Plan, wie wir den Tag organisieren wollten, der Besuch bei meinem Vater sollte am frühen Nachmittag stattfinden. Michael brauchte im vierstündigen Rhythmus sein Fläschchen und musste danach seinen Mittagsschlaf haben. Da er um halb sieben die letzte Flasche getrunken hatte, würde er in einer guten Stunde wieder Hunger haben. Bis er gewickelt und gefüttert war und sein Bäuerchen gemacht hatte, überschlugen wir, würde es auf elf zugehen.
Das passte prima, für die rund siebzig Kilometer bis Bad Camberg brauchten wir eine gute Stunde, wenn wir über die Autobahn fuhren. Das Wiesbadener Kreuz war aufgrund einer Baustelle ein Nadelöhr, was wir umfahren könnten, dafür aber durch die ganze Stadt fahren, und ein gutes Stück Landstraße in Kauf nehmen müssten. Wir entschieden uns für das Nadelöhr.
Papa gefiel mir gar nicht. Ich hatte erwartet, dass er sich freuen würde endlich seinen Enkel zu sehen und in die Arme schließen zu dürfen, und wurde umso mehr enttäuscht, dass er uns mehr oder minder apathisch empfing und offensichtlich wenig Interesse hatte, Michael als neuestes Familienmitglied in die Sippe aufzunehmen.
„Was hast du erwartet?“, fragte mich meine Mutter etwas später, als wir beide uns darum kümmerten, dass der Kleine gewickelt und gefüttert wurde, während Josef meinen alten Herrn bespaßte.
„Ich habe dir doch gesagt, dass er eine schwere Depression hat“, fügte sie noch hinzu. Um mir kurz darauf zu sagen, dass sie der Meinung sei, dass es mir ähnlich ginge, auch ich mache auf sie einen depressiven Eindruck. Ich versucht ihr, diesen Gedanken auszureden, hatte aber damit keinen Erfolg, dafür war sie zu sehr Ärztin, wenngleich die Psyche nicht zu ihrem Fachgebiet zählte.
„Du nimmst jetzt deinen Josef und ihr dreht mit Michael im Kurpark ein paar Runden, in der Zwischenzeit rede ich mit Bernd. Der ist im Moment nicht wirklich in der Lage einen auf Familie zu machen, den quälen gerade andere Sorgen. Lasst mich mal für eine dreiviertel Stunde mit ihm allein, danach sehen wir weiter.“
Im Kurpark zog es derart lausig, dass wir uns innerhalb kürzester Zeit dafür entschieden, Zuflucht in der Cafeteria der Kurklinik zu suchen, die jetzt, kurz nach der Mittagszeit kaum frequentiert wurde. Da wir seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatten nutzten wir die Auswahl der, lecker aussehenden Kuchen, um unseren Hunger vorübergehend zu stillen.
Die Cafeteria grenzte direkt an die Lobby, so dass man durch die Glasfront einen guten Blick auf das Kommen und Gehen hatte. Plakate an der Stirnwand und hinter dem Tresen warben für eine Faschingsveranstaltung, die am gleichen Abend stattfinden sollte.
Wir wollten uns gerade wieder zu meinem Vater begeben, als zwei Damen, Richtung Ausgang eilend, einen Blick in die Cafeteria geworfen hatten, auf dem Absatz umdrehten und zielstrebig unseren Tisch ansteuerten.
„Sie sind bestimmt Herr Mendel“, eher bestimmend den fragend, streckte eine der Beiden Josef die Hand hin, sich selbst als Sigrid vorstellend. Josef, der ob dieses Überraschungsangriffs etwas perplex war, ergriff die dargebotene Hand und stellte sich mit „Josef Heiland“ vor. Dabei wies er mit der anderen Hand auf mich. Derweil beäugte die andere Dame Michael, der immer noch friedlich schlafend in seinem Kinderwagen lag.
„Und du bist Bernds Enkelsohn Michael“, sagte sie ganz leise zu ihn. Also musste mein Vater doch über seinen Enkel gesprochen haben. So kalt, schien es ihn wohl doch nicht zu lassen überlegte ich, wurde aber unsanft aus meinen Gedanken gerissen, als Josef mir einen kleinen Rempler verpasste, da ich die dargereichte Hand Silvias, wie sich die Kindsbetrachterin mir nun vorstellte, nicht bemerkt hatte. Ich entschuldigte mich bei den Damen und wollte sie zu Kaffee und Kuchen einladen aber die beiden Frauen beschieden mir, dass es im Ort ein Café gäbe, dessen Torten nicht zu schlagen waren. Sie wären auf dem Weg dorthin und wollten nur mal schnell einen Blick auf den Kleinen werfen.
Bis die Damen dann ihren begehrten Tortenstücken zustrebten verging doch noch geraume Zeit, in der wir erfuhren, wie viel mein Vater von unserem Familienleben bei den Tischgesprächen preisgegeben hatte. Die Ladys waren bestens informiert.
Nachdem sie endlich gegangen waren, fragte ich Josef, ob er das merkwürdige Verhalten meines Vaters verstehen würde. Er schüttelte nur verneinend mit dem Kopf und meinte dann, es sei wohl an der Zeit, dass wir uns wieder im Zimmer meines Vaters blicken ließen.
„Wir sitzen jetzt schon seit eineinhalb Stunden hier, ich denke, deine Eltern haben genügend Zeit gehabt, um sich auszusprechen, oder was meinst du?“, seinem Ton entnahm ich, dass er leicht genervt war. Vermutlich durch das Geschwätz der beiden Frauen, die uns quasi unser eigenes Leben in den letzten Monaten erzählt hatten.
„Ja, lass‘ uns wieder hoch gehen, vielleicht erfahren wir ja mehr, wenn wir ihm gleich erzählen, wen wir hier getroffen haben und ihn damit konfrontieren, dass uns die Ladys unser ganzes Leben erzählt haben.“
Im Zimmer herrschte eine frostige Atmosphäre. Mein Vater sagte gar nichts und meine Mutter hatte sich in Rage geredet.
„… du wirst mit meiner Entscheidung leben müssen, hattest genügend Zeit, um deine eigene Vorstellung zu artikulieren!“, hörten wir noch, als wir die Tür gerade öffneten.
„Dicke Luft?“, fragte ich, um dann sofort unser neues Wissen kundzutun, „es ist schon sehr merkwürdig Dad, dass du hier offenbar Kreti und Pleti von deiner Familie erzählst, dass du Opa geworden bist und unter welchen Umständen wir aus Israel getürmt sind. Dabei zeigst du überhaupt kein Interesse für deinen Enkel!“
Nachdem er erst mal wie ein betroffener Pudel, dumm aus der Wäsche geschaut hatte, kam er mit einer, mir lahm klingenden, Erklärung rüber.
„Es ist halt alles zu viel, Katharina, von der ich wahnsinnig enttäuscht bin, auch wenn man über Tote nichts schlechtes sagen soll. Dann deine Aktion im Krankenhaus in Bethlehem. Jetzt wollt ihr auch noch den Jungen erziehen und deine Mutter hat nichts Besseres zu tun, als meine Praxis so schnell wie möglich zu verhökern!“
Ich sagte nichts dazu, mir war schon klar, dass er mich für Katharinas Tod verantwortlich machte. Ich machte mir selbst immer noch Vorwürfe und hatte Alpträume, von denen ich freilich niemandem etwas erzählt hatte. Sowohl Josef als auch meine Mutter ahnten es, vor allem Mama wollte mir unbedingt einen Seelenklempner aufschwatzen. Wie ich sie kannte, würde sie das Wochenende dazu nutzen, Josef auf ihre Seite zu ziehen. Die beiden kamen super miteinander aus.
Als Michael, nach seinem Mittagsschlaf frisch gewickelt und gefüttert, an Josefs Schulter liegend, sein Bäuerchen gemacht hatte, war mein Vater endlich bereit, seinen Enkel in die Arme zu nehmen. Dad, der auf seinem Bett lag, hatte sich den Kleinen auf den Bauch gelegt, wo dieser schon wieder dabei war, einzuschlafen.
„Du kannst ja nichts dafür“, flüsterte er ihm zu, „dann wollen wir alle mit vereinten Kräften daran arbeiten, dass aus dir ein selbständiger und erfolgreicher Mensch wird!“ Na also, geht doch, dachte ich bei mir.
Das Wochenende ging viel zu schnell vorbei. Bis wir samstags wieder in meinem Elternhaus ankamen, war es schon wieder so spät, dass wir uns, nachdem wir unseren Sonnenschein versorgt hatten, erneut Essen in einem Restaurant holten. Und dann war es ratzfatz Sonntagnachmittag und wir saßen wieder im Auto auf dem Weg zurück nach Oberbayern.

Kapitel 6 – Bernd

Wir hatten schon Mitte März und ich war immer noch in Bad Camberg, in der Rehaklinik. Mittlerweile war der Vertrag mit Doktor Sahdi, meinem Praxisnachfolger unterschrieben. Er war zu diesem Zweck eigens hierhergekommen, was ich ihm hoch anrechnete. Vor allem hatte er sich viel Zeit gelassen und mir ausführlich sein Konzept erläutert. Ich muss zugeben, dass hörte sich nicht nur gut an, das war vom Anfang bis zum Ende gut durchdacht.
Er hatte mich gebeten, ihm in den ersten Monaten beratend zur Seite zu stehen. Wenn wir die Patienten zu zweit empfangen würden, wäre die Hemmschwelle niedriger, sich von einem fremdländischen Arzt behandeln zu lassen, war seine Überlegung. Mir war das mehr als recht, erhielt ich dadurch doch die Möglichkeit, mich von den meisten meiner Patienten persönlich zu verabschieden. Außerdem brauchte ich nur vormittags präsent zu sein und etwas Geld würde ich auch noch verdienen.
Bei Irene musste ich Abbitte leisten, sie hatte mit ihrer Entscheidung, ihm die Nachfolge anzubieten, völlig richtig gelegen. Doktor Sahdi war ein überaus zuvorkommender, kultivierter Mann, dessen Interessensgebiete vielseitig waren. Wir teilten die Leidenschaft für klassische Musik und Literatur, genau wie ich, begeisterte er sich für fremde Kulturen und liebte das Reisen.
Kurz nachdem die Jungs mit meinem Enkel da waren, wurden Sigrid und Silvia entlassen, sodass ich zwei neue Leute an meinen Tisch im Speisesaal bekommen hatte. Wir waren nun ein reiner Herrentisch, für mich eine willkommene Abwechslung nach den gemischten Tischen, wo es ständig Konkurrenz, sowohl unter den Männern als auch unter den Frauen, gab, wenn jemand anbändeln wollte.
Unsere Gespräche drehten sich meist um Politik, manchmal sprach einer von den anderen auch das Thema Sport an, allem voran ging es da um Fußball, etwas wofür ich mich von Kindesbeinen an nicht begeistern konnte.
Einig waren wir darüber, dass die Taliban mit der Zerstörung der beiden, aus dem fünften Jahrhundert stammenden Buddha Statuen in Bamiyan, in Afghanistan, einen irreparablen Frevel begangen hatten. Allerdings war das nichts im Vergleich zu den Gräueltaten, welche von den Taliban mit Unterstützung durch die Al-Qaida, seit 1996 systematisch an der Zivilbevölkerung verübt wurden.
Es war schon interessant zu erfahren, welche politischen Ansichten meine Tischnachbarn so vertraten. Bei Gottfried, einem sechzigjährigen Bayern, aus der Nähe von Rosenheim, waren die CSU-Doktrinen so verankert, dass er wohl noch nie den Wahrheitsgehalt derer Pamphlete in Frage gestellt hatte. Wolfram, sechsundfünfzig jähriger Hamburger mit eigener Firma, vertrat die Ansichten der FDP, mein Herz schlug viel weiter links, wobei ich tendenziell Parteiunabhängiger bin. Bartok, der ebenfalls zu unserer Tischrunde zählte, schied aus, da er als Ungar zwar eine Meinung hatte, in Deutschland aber nicht wählen durfte.
Wir diskutierten unter anderem lange darüber, ob die Eidgenossen, sich bei ihrer Volksabstimmung Anfang des Monats, wo sie mehrheitlich einer Aufnahme von Gesprächen zum Beitritt zur EU abgelehnt hatten, einen Gefallen getan hatten. Mehr als zweidrittel hatten der Initiative ‚Ja zu Europa‘, eine Absage erteilt und das bei einer recht hohen Wahlbeteiligung. Immerhin waren fast 56% der Wahlberechtigten zu den Urnen geeilt. In meinen Augen war das wieder mal so absolut typisch für die Schweiz. Immer stur die Unabhängigkeit waren. Die wirtschaftlichen Vorteile, die ihnen der Beitritt zu Union bringen würden, wurden ignoriert. Was mich aber am meisten aufregen konnte, war die Ignoranz, mit der viele Schweizer der Aufforderung, ihre Stimme abzugeben, einfach nicht nachkamen. Da hatten sie, in meinen Augen, eines der bestfunktionierenden demokratischen Staatssysteme und nutzten es nicht.
Wir wären dankbar, wenn unsere Regierung an unserer Meinung interessiert wäre, und wir uns nicht nur alle vier Jahre für das kleinere Übel entscheiden müssten, sondern aktiv an politischen Entscheidungen mitwirken könnten.
Am kommenden Dienstag sollte ich entlassen werden, weitere therapeutische Maßnahmen konnten ambulant durchgeführt werden. Ich sprach wieder fließend, wenngleich mir immer wieder einzelne Wörter nicht einfielen, und ich dann umschreiben musste, was ich ausdrücken wollte.
Irene hatte mir ein Wörterbuch und einen Duden mitgebracht. Mit diesen Werken trainierte ich täglich meinen Wortschatz. Wenn ich Doktor Sahdi, der am zweiten April die Praxis übernehmen würde, zur Hand gehen sollte, dann wollte ich soweit fit sein, dass meine ehemaligen Patienten mich verstehen konnten.
Was noch nicht klappte, war das Laufen, ich zog das linke Bein immer noch leicht nach, trotz wochenlanger Ergotherapie.
Und an meiner Psyche musste noch viel gearbeitet werden. Da lagen mehr Leichen im Keller, wie die Therapeutin das ausgedrückt hatte, als ich mir selbst hatte eingestehen wollen. Um einen wirklich guten Therapeuten zu finden, würde ich mich entweder in Mainz oder Bad Kreuznach umsehen müssen, in Bingen hät te ich wohl keine Chance, hatte ich mir nach der letzten Therapiestunde überlegt.
Das Entlassungsgespräch mit dem Chefarzt war auf Montagnachmittag terminiert. Ich war gespannt, was er mir mit auf den Weg geben würde. In regelmäßigen Abständen hatte ich Gespräche mit ihm geführt, bei denen er mir immer wieder neue Denkanstöße vermittelt hatte.
Als ich mich, kurz nach Beginn der Therapie., bei ihm über das ruppige Verhalten der Psychotherapeutin beklagen wollte, hatte er mir schnell den Wind aus den Segeln genommen. Eine Psychotherapie sein kein Kuraufenthalt, da hieße es, hart an sich zu arbeiten und auch den unangenehmen Dingen, die man dabei über sich selbst erfuhr, ins Auge zu blicken, beschied er mir. Bei manchen Patienten sei der ruppige Ton, wie ich mich auszudrücken beliebe, durchaus angebracht. Die Kollegin sei eine anerkannte Kapazität.

Kapitel 7 – Josef

Wir schrieben den vierundzwanzigsten April, Michael war nun genau vier Monate alt. Die erste Sechsfach-Impfung hatte er schon erhalten und entwickelte sich so, wie man es erwarten konnte. Er war ein fröhliches Kind. Wenn er wach war, brabbelte er in einem Fort vor sich hin. Spielte man das Kuckuck-Spiel mit ihm, durfte man sich seines Glucksens und Lachens sicher sein. Schon nach kurzer Zeit zog er sich das Tuch selbst vom Gesicht und wartete da-rauf, dass man Kuckuck rief.
Für kurze Zeit waren wir als junge Familie dem Dorftratsch ausgesetzt gewesen, was sich aber sehr schnell legte, allein schon dadurch, dass wir die Untersuchungstermine beim Kinderarzt möglichst zusammen wahrnahmen. Mit Kind hatten wir von eben auf gleich einen viel größeren Bekanntenkreis.
Markus, als Journalist eh weit extrovertierter als ich, ratschte mit jeder jungen Mutter, und auch mancher Vater konnte sich seiner Neugier nicht entziehen. Wobei er aber immer strickt darauf achtete, die genauen Umstände unserer Vaterschaft zu verschweigen.
Am ersten April hatten sich in den Niederlanden, die ersten vier homosexuellen Paare standesamtlich trauen lassen, knapp sechs Monate nach der Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Markus und ich diskutierten lebhaft darüber, ob wir so etwas auch tun wollten, wobei mir wieder in den Sinn kam, dass ich mich ja zunächst noch scheiden lassen musste. Dass wir bis zur Ehe für alle noch fast siebzehn Jahre würden warten müssen, hätten wir uns damals nicht vorstellen können.
Um Markus Drängen zu entgehen, hatte ich am Fünften meine Ex auf ihrem Handy angerufen und ihr gesagt, dass es Zeit wäre, sich scheiden zu lassen.
„Hast du eine Neue?“, hatte sie gefragt, worauf ich ihr antwortete, dass ich nun mit einem Mann zusammen lebte und wir darüber hinaus auch einen Sohn hätten. Das hatte ihre Neugierde geweckt und so kam es, dass wir uns noch in der gleichen Woche, beim Griechen in Unterhaching, auf einen gemeinsamen Anwalt einigten. Natürlich wollte sie alles wissen, wann und wo ich Markus kennen gelernt hatte und wieso wir einen Sohn hatten, ob Markus denn auch verheiratet gewesen sei …, Fragen über Fragen, bei denen ich, stellenweise eine Antwort schuldig bleiben musste.
Am dreizehnten April waren Eli und Joshua zu einem viertägigen Besuch aus Tel Aviv angereist. Eli wollte seinen Neffen so oft es möglich war sehen, und die beiden hatten schon an Silvester davon gesprochen, dass wir uns mindestens zweimal im Jahr treffen sollten, damit sie Michaels Entwicklung mitbekamen. So kam es, dass wir Ostern nicht zu Irene und Bernd fuhren, die ihren Enkel an seinem ersten Osterfest gerne um sich gehabt hätten.
Damit wir nicht zu viel Aufwand betreiben mussten, hatten sie sich am Franz-Josef-Strauß Flughafen, bei einem der dort zahlreich vertretenen Leihwagen Unternehmen einen Wagen gemietet, und das Navi hatte sie zuverlässig zu uns gelotst. Ein Zimmer hatte ich für sie im Hotel Abendruhe gebucht und im Voraus bezahlt, ein kleines Dankeschön für ihre Unterstützung, ohne die wir den Kraftakt in Bethlehem nicht hätten stemmen können.
Da ihr Besuch auf das Osterwochenende fiel, brauchte ich mein Geschäft nicht zu vernachlässigen und wir hatten zudem Zeit, uns ausgiebig unserem Besuch zu widmen.
Eli erzählte beim freitäglichen Abendessen, von den Anstrengungen die sein Vater und seine beiden älteren Brüder unternommen hatten, um herauszufinden, wie es uns gelungen war, Michael aus der Klinik zu entführen. Etwas anderes als eine Entführung war es in ihren Augen nicht gewesen und der alte Weizmann hatte sogar Anzeige gegen Amira erstattet, wegen Beihilfe. Dabei hatte sie ja mit ihrer Weigerung, Elis Brüdern ihren Neffen auszuhändigen, verhindert, dass Michael bei der falschen Familie aufwuchs.

Amira war daraufhin von der Polizei verhört worden, weiter war bislang nichts geschehen.
„Kann da noch etwas kommen?“, wollte Markus von Eli wissen, der bestätigte, dass dem vermutlich so sein werde. Der Weizmann Clan war mächtig und verfügte über genügend Geld, um notfalls den Staatsanwalt zu schmieren. Korruption war in Israel gang und gäbe, Und wenn dieser Staatsanwalt nicht käuflich war, dann erstattete man eine weitere Anzeige, irgendwann landete so etwas mal bei einem geldgierigen Beamten.
Was bei mir die Alarmglocken ins Schwingen brachte, war, dass Eli’s Bruder Schmuel versucht hatte, seine Kontakte zum Geheimdienst dazu zu nutzen, um über deren in Deutschland operierenden Mitarbeiter Michael entführen zu lassen, was Eli im Verlauf des Abends eher beiläufig erwähnte.
„Wieso hat dein Bruder Kontakte zu eurem Geheimdienst?“, fragte ich besorgt.
„Das ist ein Relikt aus seiner Zeit beim Militär. Einige seiner Kumpels von damals, sind nach ihrem dreijährigen Dienst beim Aman, dem Mossad oder dem Shin Bet untergekommen. Dass seine Einheit 1982 bei der Operation ‚Frieden für Galiläa‘, wie man in Israel den ersten größeren Arabisch-Israelischen Konflikt nannte, der von Israel ausgegangen war, in diesem Scharmützel eingesetzt war, und Eli sowie weitere Kameraden dabei verwundet wurden, sei mit ein Grund, warum diese Verbindungen bestünden.
„Mit demjenigen, mit dem du gleichzeitig verwundet wurdest, und mit dem du vermutlich im selben Lazarett wieder zusammengeflickt wurdest, unterhältst du Verbindung, bis du stirbst“, trug Joshua zur Erklärung bei.
Markus war bleich geworden, ich sah wie seine Hände zitterten, wie er panisch wurde. Seine Gedanken kreisten um Flucht, so vermutete ich. Flucht wohin? Wenn es Shmuel gelang, den Mossad einzuschalten, dann waren wir nirgends auf der Welt sicher. Wie effektiv diese Organisation war, wusste man spätestens seit 1960, als sie Josef Eichmann in Argentinien aufgespürt, entführt und nach Israel verfrachtet hatten, wo er zum Tod durch den Strang verurteilt wurde.
„Woher weißt du das“, fragte Markus, dessen Stimme eine bedrohlich hysterisch Höhe angenommen hatte, „ich dachte, du seist das schwarze Schaf in der Familie und das man nicht mehr mit dir redet?“
„Nein, weder mein Vater noch meine Brüder kämen auch nur ansatzweise auf die Idee, mir das zu erzählen“, antwortete Eli, nachdem er sein Glas abgesetzt und sich den Schaum vom Mund gewischt hatte. „Wir besprechen ausschließlich geschäftliches. Esra hat Wind von der Sache bekommen und es Josh gesagt“, dabei blickte er seinen Partner aufmunternd an.
„Du weißt, dass ich über meine Arbeit nicht reden kann“, sagte Josh zu Eli, wobei man das Funkeln seiner Augen, bestimmt nicht als freundlich interpretieren konnte. War Josh etwa selbst beim Mossad, fragte ich mich? Wenn ich daran zurückdachte, wie die beiden meine Ausreise aus Israel organisiert hatten, war dies eine logische Schlussfolgerung.
„Mossad sagt mir etwas, aber Amri und Shin Bet? Was sind das für Vereine?“, wollte ich von Josh wissen.
„Ihr könnt beruhigt sein. Der Antrag hat Esras Büro nie verlassen, weder auf elektronischem noch auf einem anderen Weg, wenn man den Inhalt des Schredders mal außen vorlässt“, versuchte Joshua uns zu beruhigen, mehr sagte er allerdings nicht. Dafür ergriff Eli wieder das Wort und erklärte uns, dass es sich bei Amri um den Militärischen, und bei Shin Bet um den Inlandsgeheimdienst handelt.
Wir waren alles andere als beruhigt. Eine Anzeige gegen Amira, die Staatsanwaltschaft auf dem Plan. Kontakte zu einem der effektivsten Auslandsgeheimdienste, den man jederzeit wieder einschalten konnte. Was würde als nächstes kommen. Die Weizmanns vermuteten ja bereits, dass das Beatmungsgerät sich nicht selbst ausgeschaltet hatte.
Ich hatte größte Mühe Markus zu beruhigen, als wir an diesen Abend endlich im Bett lagen. Ich fragte mich, wie wir diese Bedrohung hatten übersehen können. Hatten wir sie übersehen oder hatten wir sie nur verdrängt?
Die letzten vier Monate waren einfach zu turbulent gewesen. Ständig gab es etwas zu tun, zum Verschnaufen blieb einfach keine Zeit. Inwieweit sich Markus darüber Gedanken gemacht hatte, wusste ich nicht. Bei ihm ging es auch drüber und drunter. Die Tageszeitung, für die er gearbeitet hatte, eines der großen Münchner Boulevardblätter, hatte ihm, nachdem er am siebten Januar nicht aus dem Urlaub zurückgekehrt war, zwar bis Ende des Monats unbezahlten Urlaub gewährt aber eine weitere Verlängerung, um die er gebeten hatte, abgelehnt und ihm stattdessen fristgemäß gekündigt.
Er wollte gegen die Kündigung klagen aber ich riet ihm davon ab. Die Erfolgsaussichten waren nicht gerade rosig und außerdem wollte ich, dass er erst einmal seine Therapie machte. Ich verdiente genug, um uns drei, mehr als über Wasser zu halten. Wir konnten mit meinem Verdienst zwar keine drei Fernreisen im Jahr machen, aber um gut zu leben, reichte es allemal.
Dann gab es auch noch eine Auseinandersetzung mit seinen Eltern, die bei einem der zahlreichen Telefonate auf die glorreiche Idee gekommen waren, das Thema Taufe anzusprechen.
„Michael wird nicht getauft“, war Markus knappe Antwort auf Irenes Frage nach dem Termin gewesen. Ich hatte das Gespräch per Lauthörfunkton mitverfolgt. Irene insistierte, wollte wissen warum wir Michael nicht taufen lassen wollten. Nachdem Markus sie an Michaels Geburtsurkunde erinnert hatte, in der er unter dem Namen Jonathan Mendel, mit israelischer Staatsangehörigkeit und unter der Rubrik Religionszugehörigkeit: Jude eingetragen war, war dieses Thema fürs Erste vom Tisch.
Ich schlief schlecht in dieser Nacht und wachte nach einem Alptraum schweißgebadet auf. In meinem Traum war Markus mit Michael zusammen entführt worden und die Polizei stand vor einem Rätsel, da keine Lösegeldforderungen gestellt wurden. Jahrelang blieben die beiden wir vom Erdboden verschwunden, kein Lebenszeichen, nichts. Ich pilgerte durch den Nahen Osten, auf der Suche nach ihnen, völlig verarmt, zu Fuß, von den Almosen Barmherziger am Leben gehalten. Die Einreise nach Israel hatte man mir verweigert, mich an der Grenze als Persona non grata zurückgewiesen, so dass ich mit dem nächsten Flug wieder zurückfliegen musste…
Nachdem ich mich geduscht und rasiert hatte, saß ich mit einer Tasse Kaffee in unserer Küche und bekam diesen Traum nicht aus dem Kopf. So unlogisch das Ganze. Erst verlumpt und zu Fuß und in der nächsten Sequenz sah ich den Transitbereich des Ben Gurion Airports in Tel Aviv vor mir, wo man mich als unerwünschte Person zurückwies.
Das Babyfone holte mich in die Realität zurück. Da war jemand wach, wie mir das fröhliche Gebrabbel unmissverständlich vor Augen führte. Gleich würde aus dem Gebrabbel ein forderndes Brüllen werden, wenn der junge Mann realisierte, dass er zum einen Hunger und zum anderen die Windel voll hatte.
Nachdem ich den Kleinen versorgt hatte und er mit seiner Rassel spielend sicher angegurtet in seiner Wippe lag, begann ich unser Frühstück vorzubereiten. Wenig später betrat auch Markus die Küche, gab Michael einen Kuss und kam dann zu mir, nahm mich in den Arm, küsste mich und sagte: „ich habe eine Scheißangst!“
„Ich auch“, gestand ich ihm. Eigentlich hatte ich ihm von meinem Traum erzählen wollen, aber das würde seine Angst nur noch weiter schüren und er war eh schon ein Nervenbündel. Einer musste stark bleiben, gewappnet sein für das, was da sicher noch auf uns zukommen würde.

Kapitel 8 – Irene

Seit ihrem Besuch Anfang des Jahres hatten wir unseren Enkel nicht mehr gesehen. Ostern hatten Markus und Josef ja Besuch von Michaels Onkel und dessen Lebensgefährten, so dass sie da nicht kommen konnten. Umso mehr freuten wir uns auf das bevorstehende Wochenende, dass mit dem heutigen Himmelfahrtstag begann.
Die junge Familie war seit halb acht unterwegs. Markus hatte kurz vor ihrer Abfahrt angerufen. Die Küchenuhr zeigte kurz vor Zehn, Zeit genug, um sich eine Tasse Kaffee zu gönnen, bevor ich mich den Vorbereitungen für das Mittagessen widmete.
„Möchtest du auch einen Kaffee?“, rief ich Bernd durch die geöffnete Terrassentür zu, der es sich draußen mit einem Buch gemütlich gemacht hatte.
„Lieber was Kaltes“, sein Wunsch war mir Befehl. Ich wollte ihn gerade fragen, ob er eine Saftschorle oder Wasser wollte, als er in der Tür erschien.
„Ein Glas Wasser, bitte“. Als er sich mit dem Gewünschten wieder in Richtung seines Stuhls bewegte, sah ich, dass er das linke Bein immer noch leicht nachzog. Da würden noch einige Ergotherapie Stunden auf ihn zukommen.
Ich war froh, dass er einen guten Psychotherapeuten in Kreuznach gefunden hatte. Bingen oder Ingelheim wäre sicher näher gewesen und hätte mich nicht so viel Zeit gekostet, denn Auto fahren konnte er noch nicht wieder. Ob und wann das möglich sein würde, darüber schwieg sich der behandelnde Neurologe beharrlich aus. Immerhin hatte der Therapeut sich bereit erklärt, die Stunden auf den Mittwochnachmittag zu legen, wo meine Praxis geschlossen war.
Die Praxis lag im Kurviertel, und während Bernd psychisch auf Vordermann gebracht wurde, bummelte ich, bei gutem Wetter, entlang der kleinen Geschäfte, oder saß direkt im Quellenhof, auf der anderen Naheseite, unweit des Eingangs zum Radonstollen gelegen. Dort nahmen wir auch immer öfter unser Abendessen ein, wenn es uns nicht nach Heddesheinm, in den Kaiserhof trieb, wo wir schon seit Ewigkeiten Stammgäste waren.
Die Radonbehandlung hatte ich schon einigen meiner, an chronischen Gelenkschmerzen erkrankten Patienten, empfohlen. Radon, an sich ein hochtoxischer Stoff, der nach dem Rauchen, als Ursache für Lungenkrebs, an zweiter Stelle steht, kann in sehr hoher Konzentration, und für kurze Zeit inhaliert dazu führen, dass diese Menschen für einige Zeit auf die Einnahme ihrer Medikamente verzichten können und unter Umständen sogar nahe schmerzfrei sind. Ich hatte früher oft mit Bernd darüber diskutiert, der einen anderen Standpunkt vertrat und solche Behandlungen schlichtweg ablehnte.
Als ich mich mit meinem Kaffee zu ihm gesellte, wollte er wissen, was es zum Mittagessen gäbe.
„Na was wohl, in der Spargelzeit?“, verwundert über diese Frage schüttelte ich den Kopf.
„Was es dazu gibt, möchte ich wissen. Das du Spargel servierst, war ja eben in der Küche nicht zu übersehen!“
„Neue Kartoffeln, verschiedene Schinkensorten und eine Sauce du Pêche“, beantwortete ich seine Frage.
„Sauce du Pêche? Nie etwas davon gehört. Was soll das denn sein?“
„Nichts anderes als eine Sauce Hollandaise aus der Packung, aufgemotzt mit einen Schuss Pfirsichlikör, einer Prise bunten Pfeffers und verfeinert mit einem Hauch Ingwer!“ Ich machte meine Spargelsauce schon seit Jahren so, hatte ihr nur nie einen anderen Namen verpasst.
„Was liest du zurzeit?“, fragte ich Bernd, und griff nach dem Buch, dass mit dem Einband nach oben, offen auf dem Tisch lag, dessen Titel ich aber nicht entziffern konnte.“ James A. Michener CHESEPEAKE, las ich. „Hast du den nicht schon einmal auf Deutsch gelesen?“, wandt ich mich an Bernd.
Er bestätigte meine Frage und erklärte mir, dass es dadurch für ihn leichter sei, sein Vokabular aufzufrischen.
Michener war einer von Bernds Lieblingsautoren und ich hatte ihm in den vergangenen Jahren immer wieder Bücher dieses Amerikaners geschenkt. Alles dicke Wälzer, die Bernd immer in kürzester Zeit verschlungen hatte. Einige dieser wirklich hoch interessanten Romane hatte ich auch gelesen, meist im Urlaub, wenn ich Zeit hatte, mal für längere Zeit in ein Buch zu schauen.
Micheners Stil gefiel mir auch, aber seine Art oder Unart, je nach Sichtweise des Betrachters, ganze Szenen über mehrere Dutzend Seiten zu beschreiben, machten diese Werke für eine Bettlektüre schwierig.
Nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte, überlies ich Bernd wieder seinem Michener und begab mich zurück in die Küche, um den Spargel zu schälen.
Kurz vor zwölf läutete es an der Haustür, und kurze Zeit später hörte ich, wie Bernd die jungen Herren begrüßte.
„Hallo Mama, wir sind da“, Markus, dessen Kopf sich hinter einen riesigen Blumenstrauß versteckte, lugte durch die Küchentür.
„Sind die etwa für mich`“, fragte ich. Es war nicht Markus Art, mir Blumen zu schenken. Selbst zu Muttertag ließ er sich immer etwas anderes einfallen, Blumen fand er langweilig.
„Josefs Idee, nicht meine“, lachte er. „Du kennst mich doch.“
„Und warum überreicht sie mir dann dein Freund nicht selbst? Wo steckt der überhaupt?“
„Der musste ganz dringend für kleine Jungs, oder besser gesagt Königstiger, bei der…, Ups, jetzt hätte ich beinahe etwas ausgeplaudert, was ihm bestimmt nicht recht wäre. Da kommt er ja, dann darf er dir das Gemüse selbst überreichen.
„Hallo Irene“, Josef gab links und rechts Küsschen, drückte mich dann fest an sich und nahm schließlich Markus die Blumen aus der Hand, um sie mir galant zu überreichen. Nachdem ich die Blumen versorgt hatte, bekam ich auch von Markus Küsschen.
„Wo habt ihr denn den Kleinen gelassen?“
„Um Michael kümmert sich Bernd“, beantwortete Josef meine Frage. Da hörte ich auch schon von der Terrasse ein helles Glucksen, Michael schien von Opas Bespaßung begeistert zu sein.
„Puh, du riechst aber verdammt streng…“, hörten wir Bernds Stimme.
„Dann werde ich unsrem Sohn mal eine frische Windel verpassen“, sagte Markus, zu Josef gewandt, „kümmerst du dich ums Futter?“
„Mach‘ ich mein Hase. Der Part ist mir auch viel lieber.“
„Kann ich mir denken“, rief Markus, der sich schon auf die Terrasse begeben hatte.
Während Markus den Kleinen wickelte, berichtete Josef mir, was die Weizmanns getan hatten. Mir wäre vor Schreck fast die Vorlegeplatte aus den Händen gefallen, die ich gerade aus dem Schrank genommen hatte.
„Kein Wort zu Bernd“, bittend sah ich Josef an, „die Aufregung könnte einen neuen Schlaganfall auslösen.“ Ich musste mich hinsetzen, so zitterten mir die Knie.
„Keine Angst, Bernd erfährt nichts, jedenfalls nicht von uns. Das ist auch der Grund, warum wir dir erst jetzt davon erzählen. So was kann man einfach nicht am Telefon erzählen.“
„Was kann man nicht am Telefon erzählen?“, Markus war mit Michael auf dem Arm zu uns in die Küche getreten.
„Israel“, beantwortete Josef seine Frage.
„Das ist ja furchtbar“, ich nahm Markus in die Arme. Den Kleinen hatte er Josef gegeben, der mit ihm und dem Fläschchen, sich zu Bernd auf die Terrasse gesellt hatte.
„Furchtbar ist überhaupt kein Ausdruck, es ist der reinste Horror. Am liebsten würde ich mit Michael türmen. Das bringt aber nichts, wenn die wirklich den Mossad auf ihre Seite bringen, sind wir nirgends sicher.“
Mir wurde klar, dass das so nicht weitergehen konnte. Es musste doch eine Möglichkeit geben, dass Michaels andere Verwandtschaft den Jungen in Ruhe heranwachsen ließ.

Kapitel – 9 Markus

Michael war nun fast ein halbes Jahr alt und begann zu krabbeln, und sich an allem, was er erreichen konnte, hochzuziehen. Wir hatten begonnen seine Ernährung umzustellen, und so bekam er jetzt immer weniger Flaschennahrung. Im Küchenschrank stapelten sich die Gläschen mit Gemüsebrei. Auch die ersten Zähnchen begannen zu wachsen, was sich durch Unruhe und häufigeres Weinen zeigte. Die Kinderärztin hatte zu einem weichen Beißring geraten. Viel mehr ließ sich leider nicht machen.
Josef hatte sehr viel zu tun, ein Großauftrag ließ ihn frühmorgens das Haus verlassen und meist kam er abends erst nach zwanzig Uhr nach Hause. Das würde sich zwar sehr gut auf seinem Kontoauszug machen, hieß aber auch, dass ich den ganzen Tag über mit Michael allein war.
Das war per se nicht tragisch, aber mir fehlte ab und zu jemand zum Ratschen. Gut, es gab die Müttergruppe, die sich jeden Mittwoch zum Frühstück traf, und zu der man mich als einzigen „Vater“ eingeladen hatte, daran teilzunehmen. Für diese Mädels, die sich alle von der Geburtsvorbereitung her kannten, gab es leider nur ein The-ma, und das waren unsere Kinder.
Wenn ich mich mal über ein anderes Thema unterhalten wollte, musste ich versuchen meinen Vater telefonisch zu erreichen. Von ihm wusste ich, dass er zumindest Mittwochs in der Früh zuhause war. Papa war schon immer politisch sehr interessiert gewesen und vertrat eine sehr liberale Ansicht, etwas, indem wir uns sehr nahe standen.
Nach dem Desaster mit der Boulevardzeitung hatte ich die Schnauze gestrichen voll davon, im Angestelltenverhältnis für ein Tagesblatt zu schreiben. Als Neuling bekam man eh erst einmal die langweiligsten Ressorts zugewiesen und mit Kind ging es ja eh nicht. Tägliche Redaktionssitzungen, dazu durch die Gegend gondeln um zu recherchieren, keine Chance.
Also hatte ich mich dazu entschlossen als freier Journalist Themen zu recherchieren, die mir interessant erschienen und diese Artikel dann großen, überregionalen Blättern anzubieten. Das erforderte zwar auch Recherchearbeit, aber die konnte ich von zuhause aus im Internet betreiben. Auch wenn es zu Beginn vielleicht nicht viel einbringen würde, so hatte ich etwas sinnvolles zu tun und konnte mich gleichzeitig, ausgiebig der Erziehung unseres Sonnenscheines widmen.
Anfang des Monats hatte ein Sohn, den seit 1972 regierenden, nepalesischen König Birendra und nahezu die gesamte Herrscherfamilie ermordet. Birendras jüngerer Bruder, Gyanendra, wurde neuer König und daraufhin waren in Nepal Krawalle ausgebrochen. Welche Rolle das nepalesische Königshaus im politischen Leben einnahm, und in welche korrupten Machenschaften einzelne Familienmitglieder verstrickt waren, war Gegenstand meiner aktuellen Recherche. Diese gestaltete sich jedoch sehr zeitaufwendig und schwierig, da im Internet so gut wie keine Informationen zu finden waren.
Ich überlegte, ob ich stattessen nicht lieber einen Artikel über das indische Bahnwesen schreiben sollte, denn am letzten Freitag war in Kerala wieder einmal ein Zug entgleist, wobei 57 Menschen den Tod gefunden hatten. Die einhundertvierzig Jahre alte Brücke war in schlechtem Bauunterhaltungszustand, hatte die Times of India vermeldet, und aufgrund des heftigen Monsuns sei ein Pfeiler unterspült worden. Dies wiederum hatte dazu geführt, dass das Gleis durch das Gewicht der Lokomotive brach, und die Lok zusammen mit den ersten vier Waggons in den Fluss Katalundi stürzte. Zehn Minuten nach dem Unglück habe heftiger Monsunregen eingesetzt, was die Rettungsarbeiten zusätzlich erschwert habe.
Ich hatte mich gerade in einen Artikel über das indische Bahnwesen eingelesen, Michael lag mit seiner Rassel beschäftigt in seiner Wippe, als es an der Tür läutete. Wer nervte da schon wieder, Zeugen Jehovas oder ein Paketbote, der eine Sendung für die Nachbarschaft bei uns abgeben wollte. Irgendwie musste es sich bei den Jungs rumgesprochen haben, dass bei uns meist jemand zuhause war und bereitwillig die Päckchen annahm.
Nichts dergleichen, weder Jehovas Betschwestern noch ein Paketbote, eine ältere Dame stand vor der Tür und hielt mir ihren Jugendamtsausweis unter die Nase, während sie sich als Frau Brandel vorstellte.
„Herr Mendel?“, fragte sie, und sah mich mit einem durchdringenden Blick an, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Ja, das bin ich“, beantwortete ich ihre Frage, machte jedoch keine Anstalten, die Dame hereinzubitten. Sie machte mir mit kurzen Worten klar, dass sie gekommen sei, um sich über das Wohlergehen, des mir in Obhut überlassenen Kindes zu informieren. Mit blieb nichts anderes übrig, als zur Seite zu treten und sie hereinzulassen.
Als wir ins kombinierte Kinderzimmerbüro kamen, fing Michael an zu weinen. Ich nahm ihn auf dem Arm, wo er sich auch schnell wieder beruhigte.
„Er fremdelt“, sagte ich zu Frau Brandel, die sich mit hochgezogenen Augenbrauen in dem kleinen Raum umsah, um auch sogleich ihren Unmut zu äußern.
„Das Kind sollte ein eigenes Zimmer haben, das ist eigentlich Voraussetzung!“ Da ich nicht wusste, was sie eigentlich genau wollte, und um sie zu beruhigen, erklärte ich ihr, dass wir auf der Suche nach einer größeren Wohnung seien.
„Dann beeilen Sie sich, eine zu finden“, erhielt ich zur Antwort.
„Wir sind ja dabei, aber sie muss auch bezahlbar sein, und Sie kennen ja die Preise in München und Umgebung.“ Sie ging auf diese Anmerkung nicht ein, verlangte stattdessen das Kinderuntersuchungsheft zu sehen, das ich erst einmal suchen musste, da ich mich nicht erinnern konnte, wo ich es nach der letzten Untersuchung vergraben hatte. Und wieder ein Minuspunkt, ich las es in ihren Augen.
Dann wollte sie wissen, womit ich meinen Unterhalt bestritt, und war wenig begeistert als sie erfuhr, dass ich gerade dabei war, mich als freischaffender Journalist zu etablieren.
„Verdient Frau Heiland, Ihre Lebensgefährtin denn genügend, um Sie und den Jungen ernähren zu können, falls aus Ihren Plänen nichts wird? Noch deutlicher hätte sie nicht sagen können, dass sie mich für einen Looser hielt.
„Herr Heiland kann uns ernähren, darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen aber falls Sie Zweifel daran haben sollten, können wir Ihnen gerne eine Kopie seiner letzten Steuererklärung zukommen lassen“, beantwortete ich mit ruppigem Ton ihre unangebrachte Frage. Jetzt reichte es mir, von mir aus konnte sie denken was sie wollte. Was bildete die alte Schachtel sich ein?
„Herr Mendel, ich stelle diese Fragen nicht aus Neugierde. Hier geht es einzig um das Wohl des Kindes. Ich glaube nicht, dass es für einen Säugling zuträglich ist, in einem Männerhaushalt aufzuwachsen. Kinder brauchen Vater und Mutter. Gehen Sie davon aus, dass ich eine Empfehlung aussprechen werde, dass der Junge in staatliche Obhut kommt! Der schriftliche Bescheid geht Ihnen vom Jugendamt zu.“
Ich war wie vom Donner gerührt. Nachdem die Alte gegangen war und ich Michael gefüttert und für seinen Mittagsschlaf in sein Bettchen verfrachtet hatte, rief ich in der Praxis meiner Mutter an und bat Annegret, eine der am längsten dort arbeitenden Arzthelferinnen, meine Mutter möge mich schnellstmöglich zurückrufen.
„Was fehlt denn dem Kleinen“, wollte sie wissen, „vielleicht kann ich dir ja auch weiterhelfen, deine Mutter ist sehr beschäftigt.“
„Michael fehlt nichts, dem geht es gut“, mehr sagte ich nicht.
„OK, ich richte es deiner Mutter aus, es kann aber dauern, bis sie dich zurückruft.“
An Recherche war jetzt nicht zu denken, meine Gedanken kreisten. Eine Baustelle nach der Anderen, wann würden wir endlich unsere Ruhe haben?

Kapitel 10 – Bernd

Markus hatte mich, unmittelbar nachdem die Dame vom Jugendamt gegangen war, völlig aufgelöst angerufen. Es war zu erwarten gewesen, dass sich irgendwann jemand vom Jugendamt blicken lassen würde, vor allem, nachdem Markus mittlerweile die Adoption beantragt hatte. Dass die sich ein Bild davon machen wollten, wie und wo der Junge aufwuchs, war mehr als korrekt.
Ich versuchte Markus zu beruhigen, aber panisch wie er war, gelang mir das nicht wirklich.
»Beruhige dich, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, das solltest du als Journalist doch am besten wissen«, sagte ich, als ich endlich mal zu Wort kam.
„Papa, ich weiß nicht mehr was ich machen soll, ich muss doch arbeiten, ich kann mich doch nicht den ganzen Tag nur um Michael kümmern. Der schläft immer noch recht viel und außerdem macht es mir Spaß, mal davon abgesehen, dass es hoffentlich auch etwas Geld in die Haushaltskasse spült.
Mit dem Geld war das bei den Beiden so eine Sache. Josef hatte mir versichert, dass er genügend verdiene, um die kleine Familie ernähren zu können. Darin allein lag der Hund aber nicht begraben. Markus musste krankenversichert sein und die Kasse, beziehungsweise der Staat, setzt von uns Selbstständigen ein gewisses Einkommen voraus, nachdem sich der Mitgliedsbeitrag berechnet. Das war wieder mal so typisch Deutschland. Unsere Politiker haben wirklich keine Ahnung wie es im realen Leben zugeht. Sie haben ja ihre fetten Abgeordnetenbezüge, von den Nebeneinkünften, die sie mit Reden und allerlei Lobbyisten Tätigkeiten verdienen ganz zu schweigen.
Irene und ich unterstützten ihn mit einem monatlichen Scheck über Tausend Mark, wogegen er sich zunächst heftig gewehrt hatte, und erst bereit gewesen war, ihn anzunehmen, als wir ihm klarmachen konnten, dass das kein Almosen sei, sondern unser Beitrag als Großeltern für die optimale Erziehung Michaels.
Somit hatte er etwas Luft und war nicht gezwungen, des Geldes wegen auf Teufel komm raus einen Artikel zu schrei-ben, in der Hoffnung, dass er veröffentlicht werden würde. Gerade schrieb er an einer Story über das indische Eisenbahnwesen. Diese wollte er einem bekannten  Reisemagazin anbieten.
»Bleib‘ mal ganz ruhig, ich werde mit deiner Mutter reden, sobald sie aus der Praxis kommt. Sie kennt doch fast alle Mitarbeiter des Jugendamtes hier im Kreis, vielleicht lässt sich ja über diese Schiene ein gewisser Druck auf deine Frau Brandel ausüben.«
»Ach Papa, dein Wort in Gottes Ohr, hoffentlich behältst du Recht«, seufzte Markus.
Über einen Themenwechsel erreichte ich, dass sich Markus dann doch etwas entspannte. Auf meine Frage, wie weit er denn mit seinem Artikel über die Indische Eisenbahn sei, erfuhr ich, dass allein die Recherche schon unwahr-scheinlich spannend sei. »Ein ganzes Buch ließe sich Darüber schreiben nicht nur ein Artikel«, tönte es aus dem Lautsprecher. »Wusstest du, dass Indien hinter den USA, China und Russland das viertgrößte Schienennetz hat? 1853 fuhr die erste Bahn von Bombay nach Thane, auf einer Spurweite von fünf Fuß, sechs Zoll, wofür man später die Bezeichnung indische Breitspur erfand. Diese Spurweite ist die am häufigsten verwendete auf dem indischen Subkontinent. Auch heute noch. Zu Beginn wurde die Eisenbahn von privaten Unternehmen gebaut. So hat die Great Indian Peninsula Railway das Netz von Bombay aus gebaut und betrieben. Die East Indian Railway baute von Kalkutta aus Richtung Dehli, was 1864 erreicht wurde. Die South Indian Railways baute von Madras aus und die Bombay, Baroda und Central Indian Railway erschloss von Bombay aus bis nach Baroda, dem heutigen Vadodara. Die North Western State Railway baute von Karatschi aus das Indus Tal hinauf und im Punjab, wovon heute der größte Teil in Pakistan liegt.«
Markus war gar nicht mehr zu stoppen, so faszinierte ihn dieses Thema.
»Vielleicht solltest du wirklich ein Buchprojekt daraus machen, so begeistert wie du bist«, sagte ich, als ich die Gelegenheit nutzte, auch mal etwas sagen zu können.
»Meinst du wirklich?«, da hatte ich wohl einen geheimen Wunsch entdeckt.
»So wie du dich da engagierst, wäre es doch schade, wenn du nur ein paar Mark für einen Artikel bekommen würdest. Wenn ich nur daran denke, wie viele Eisenbahnfans es gibt. Da lässt sich sicher etwas daraus machen. Frag doch mal Josef, was er von der Idee hält.«
»Mach ich Papa. Jetzt muss  ich aber Schluss machen, dein Enkel wird wach und gleich brüllt der los, wenn er merkt, dass er die Hosen voll und den Magen leer hat.«
Damit hatte er das Gespräch beendet und ich konnte mich wieder dem zuwenden, wobei er mich mit seinem Anruf unterbrochen hatte. Ich suchte im Internet nach einem zum Verkauf stehenden Bauernhof in Oberhaching und Umgebung. Darum hatte Josef mich gebeten, da er diese Arbeit Markus nicht auch noch aufhalsen wollte. Markus wusste von Josefs Plänen nichts, es sollte eine Überraschung werden.
Als Irene nach Hause kam besprach ich mit ihr Markus Problem mit der Dame vom Jugendamt.
»Sie hat natürlich recht, wenn sie sagt, dass Michael ein eigenes Zimmer braucht«, sagte sie und nahm mir die Tasse Kaffee ab, die ich ihr aus der Maschine gelassen hatte.
»Lass uns das auf der Fahrt nach Kreuznach besprechen oder später im Quellenhof«, bat ich Irene, wohl wissend, dass es sich um ein längeres Gespräch handeln würde, ich aber gerade dabei war, meine Gedanken für die anstehende Therapiestunde zu ordnen.
Ich hatte ja lange meine Zweifel bezüglich einer Psychotherapie gehabt aber ich muss zugeben, dass sie mir gut tat, wenngleich ich oft an diesen Stunden zu knabbern hatte. Zum einen war ich, wie alle anderen Menschen auch, Produkt meiner Erziehung, zum anderen verfügte ich wohl über ein mehr als gesundes Maß Egoismus. Diese Mischung, gepaart mit dem Verlust, den ich durch Katharinas Tod erlitten hatte, reichten schon aus, um auch einen kerngesunden Gaul aus der Bahn zu werfen. Dazu aber auch noch der Verlust meiner Praxis, bedingt durch den Schlaganfall, da kam doch einiges zusammen.
Die Therapiestunden verliefen nach einen nicht vorhersehbaren Muster. Ich legte mir immer wieder Themen zurecht, über die ich reden wollte und musste am Ende der Stunde überrascht feststellen, dass ich über etwas ganz anderes gesprochen hatte.
Das sei völlig normal, hatte mir der Therapeut auf meine Frage geantwortet. Dies sei ja Sinn und Zweck einer Psychotherapie, dass die Seele rede und nicht der Verstand.
Auch an diesem Mittwochnachmittag hatte sich mein Monolog verselbständigt. Wieder einmal klagte ich darüber, dass Katharina nicht Wort gehalten hatte, dass sie nicht meine Praxis hatte übernehmen wollen.
»Sind Sie absolut davon überzeugt, dass Ihre Tochter die Praxis nicht übernehmen wollte?«, hatte er mich zwischen-drin gefragt. »Was macht Sie da so sicher?«, bohrte er nach. »Denken Sie nochmal darüber nach, wir sprechen dann nächste Woche weiter, die Stunde ist schon wieder um.«
Irene wartete im Quellenhof, ich musste mich aber erst einmal sammeln, bevor ich mich zu ihr begab. Langsam schlenderte ich die Kaiser-Wilhelm-Straße entlang in Richtung Kurhaus, bevor ich dann auf der gegenüberliegenden Seite wieder zurück lief, um die Nahe über den Steg beim Hotel zu überqueren.
Irene hatte sich für „Zartes, gegrilltes Hähnchenbrustfilet in Mandeln gebraten, serviert auf Currysauce mit leckerem Butterreis“ entschieden, während meine Wahl auf „Original Idar-Obersteiner-Schaukelbraten mit Meerrettich und Kräuterbutter, herzhaften Bratkartoffeln“ fiel. Dazu orderten wir einen halben Liter Bad Kreuznacher Narrenkappe, Riesling Spätlese, trocken.
Während wir uns an unseren Speisen labten, überdachte Irene laut die Möglichkeiten, die sich ihr boten, um über diverse Jugendämter Einfluss auf das für Michael zuständige Jugendamt zu nehmen,
»Es wäre vielleicht gar nicht schlecht, wenn Markus und Josef zusammen einen Brief an das Jugendamt schreiben und ihnen ihr Erziehungskonzept vorstellen, was meinst du?«, Irene tupfte sich den Mund mit ihrer Serviette ab, um einen Schluck dieses ausgezeichneten Rebensaftes zu nehmen.
»Ich weiß nicht so recht, dazu müsste man wissen, wer der oder die Vorgesetzte dieser Dame ist. So lange wir das nicht wissen, halte ich es für keine so gute Idee«, beantwortete ich ihre Frage.
»Ich kenne da jemanden im Mainzer Jugendamt, den könnte ich mal bitten, herauszubekommen, wie das in München läuft«, sagte Irene, nachdem sie den letzten Bissen geschluckt hatte.
Da Irene, genau wie Markus, von Josefs Plänen noch nichts wusste, berichtete ich ihr, womit ich mich in meiner freien Zeit beschäftigte.
„Der Josef spreizt sich gewaltig ein, wie will er das denn finanzieren, übernimmt er sich da nicht?«, Irene blickte mich fragend an.
»Vielleicht können wir ihnen ja etwas unter die Arme greifen«, gab ich zu Bedenken.
»Und wo willst du das Geld hernehmen? Willst du unseren Notgroschen etwa antasten?«, Irenes Blick ließ keinen Zweifel daran, dass sie das für keine gute Idee hielt.
»Ich dachte eher daran, Markus das Haus mit der Praxis zu überschreiben. Dann hat er zum einen die Mieteinnahmen von den beiden Praxen und der Dachgeschosswohnung, und zum anderen können sie das Haus der Bank als Sicherheit anbieten. Bevor du jetzt etwas dazu sagst, überschlafe es erst einmal.« Damit war Irene einverstanden und wir hatten dann noch einen angenehmen Abend.

Kapitel 11 – Josef

Die Tante vom Jugendamt hatte uns gerade noch gefehlt. Ihre Drohung war das I-Tüpfelchen, was noch gefehlt hatte, um Markus an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu treiben.
Mit Mühe und Not hatte ich verhindern können, dass er total kopflos alles was Michael brauchte in eine Reisetasche stopfte und mit ihm verschwand.
»Hase das bringt doch nichts. Wo willst du denn hin?«, hatte ich ihn gefragt, als ich ihn in unserem Kinderzimmerbüro fand.
»Ich lass mir doch nicht meinen Sohn wegnehmen«, tobte er mit gleichermaßen vor Wut und von Angst verzerrtem Gesicht. Es dauerte sehr lange, bis ich ihn soweit beruhigt hatte, und er einsah, dass Flucht  der falsche Weg war.
Später, als er Michael badete, rief ich Bernd an und bat ihn, mir bei der Suche, nach einem Bauernhof in der Nähe, behilflich zu sein. Da hier in der Gegend vorwiegend Milchwirtschaft betrieben wird, sollte es eigentlich möglich sein, einen Hof zu finden, wenn nicht außerhalb, dann in einer der umliegenden Gemeinden.
Nahezu wöchentlich war in der Zeitung ein Artikel, über Landwirte zu finden, die ihren Betrieb mangels Nachfolger oder Rentabilität aufgaben.
Dass das Ganze für uns beide nicht billig werden würde, war mir klar, aber mit den Mieteinnahmen für das Haus und der Werkstatt, einigen lukrativen Aufträgen mehr und gegebenenfalls mit dem Verzicht auf das Eine oder andere, sollte es zu bewerkstelligen sein.
Ich hatte auch in Erwägung gezogen, das Haus zu verkaufen, aber ein Bekannter, mit dem ich darüber gesprochen hatte, meinte, dies sei nicht so einfach. Aufgrund der Demenz war mein Vater nicht mehr geschäftsfähig, das Haus stand aber noch auf seinem Namen. An eine rechtzeitige Überschreibung hatte keiner von uns beiden gedacht. Bei dem ganzen Trubel im letzten halben Jahr war diese Sache einfach untergegangen.
Ein Kredit von der Bank war auch noch eine weitere Option, wenngleich nicht gerade meine erste Wahl. Damals, als ich das Geschäft von jetzt auf gleich übernehmen musste, hatte ich bereits  einen kleinen Liquiditätsengpass, und mein Banker war alles andere als entgegenkommend gewesen. Wollte man von der Bank Geld, dann musste man die doppelte Summe in irgendeiner Form als Sicherheit aufbringen, so schien es mir.
Bernd meldete sich. Er hatte möglicherweise zwei geeignete Objekte gefunden, die wir uns, nächste Woche, gemeinsam ansehen wollten.
Er würde morgen mit Irene für eine Woche zu uns kommen. Irene hatte ihre Praxis für zwei Wochen geschlossen, und Bernd wurde mittlerweile immer seltener von seinem indischen Nachfolger gebraucht. Markus hatte für seine Eltern im gleichen Hotel, in dem wir auch schon die Israelis untergebracht hatten, ein Zimmer gebucht. Deren nächster Besuch sollte im September stattfinden, die beiden wollten unbedingt mal das Oktoberfest besuchen. Mit etwas Glück bräuchten wir kein Hotelzimmer zu buchen, weil wir sie bei uns auf dem Bauernhof unterbringen könnten.
Ich war auf dem Rückweg von meiner Großbaustelle, im Radio begannen gerade die Zwanziguhr-Nachrichten. Der Sprecher berichtete von heftigen Straßenschlachten in Genua, die sich Demonstranten mit der Polizei geliefert hatten. Das war mal wieder so ein typisches G8-Gipfeltreffen dachte ich mir. Warum trafen die sich nicht auf einem Flugzeugträger oder mieteten sich ein Kreuzfahrtschiff? Wäre wahrscheinlich preiswerter und für die Bürger stressfreier.
» … wurde der dreiundzwanzigjährige Carlo Giuliani von einem Carabinieri erschossen«, hörte ich gerade noch. Und jetzt auch noch ein Toter. Hörte so etwas denn nie auf? Aber ich wusste nicht, was dem vorausgegangen war. Das erfuhr ich dann später, als ich mir zuhause die Nachrichten um viertel vor Zehn im ZDF ansah. Die Demonstranten hatten einen Polizeiwagen mit Feuerlöschern und Holzbalken attackiert. Dann würde das als Notwehr gewertet werden und damit war der Fall abgeschlossen.
Unseren Sonnenschein sah ich in diesen Wochen selten. Morgens wenn ich aus dem Haus ging, lag er meist noch in seinem Bettchen und abends, wenn ich heimkam, schon wieder in den Federn. Blieben also nur die Sonntage, wo ich mich um ihn kümmern konnte, denn aufgrund des Zeitdrucks musste ich auch samstags auf die Baustelle.
Mehr solcher Großaufträge und es würde sich wahrscheinlich lohnen drei Gesellen einzustellen, ging es mir durch den Kopf, während ich im Stau mal wieder einen Meter vorrollte, dankbar dafür, dass ich den Lieferwagen mit Automatikgetriebe geleast hatte.
Kein Luxus bei den ständigen Staus auf dem Mittleren Ring und der A99 sowie der A8.
Andererseits hieße das aber auch, ständig an Ausschreibungen teilnehmen zu müssen, also jede Menge Büroarbeit, die ich entweder selbst machen müsste oder eine qualifizierte Kraft bräuchte. Also wieder Mehrkosten. Wie ich mich drehte und wendete, es endete immer wieder im gleichen Hamsterrad.
Vielleicht könnte Markus ja einen Teil der Büroarbeit übernehmen, zum Beispiel die Lohnabrechnungen machen, die Daten von den Arbeitsblättern in die neue Datenbank einpflegen, Abschlagsrechnungen schreiben. Auf Halbtagsbasis. Dann wäre er sozialversichert und hätte zudem Zeit, sich um unseren Kleinen zu kümmern. Darüber sollte ich mal mit ihm reden und hören, was er davon hielt.
Zurzeit war er ja in sein Indien Projekt vertieft. Er erzählte mir oft abends beim Essen, in welche Themen er sich gerade einlas, und über  welche exotische Eisenbahngesellschaften und deren Transporte er gerade recherchierte.
Der Scheck, den er monatlich von seinen Eltern bekam, bei dem sowohl seine Mutter als auch Bernd und ich uns den Mund fusselig redeten, bis er endlich gewillt war, diesen anzunehmen, erleichterte die Situation mit seiner freiberuflichen Tätigkeit erheblich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie die monatliche Zuwendung streichen würden, wenn er bei mir halbtags beschäftigt war.
Ich sollte vielleicht mal darüber mit Irene unter vier Augen reden, bevor ich meinem Schatz mit diesem unmoralischen Angebot unter die Augen trat. Sie hatte nicht unerheblichen Einfluss auf Markus, auch wenn er das vehement verneinen würde, sollte man ihm dies sagen.
Es ging auf halb neun zu, als ich mich an der Ausfahrt Unterhaching dazu entschloss, von der A99 abzufahren und die letzten Kilometer durch das Kaff zu zockeln. Auf diese Idee war anderen Verkehrsteilnehmer auch gekommen, denn auch hier ging es nur in gemäßigtem Tempo voran.

Kapitel 12 – Bernd

Markus Werkstatt beeindruckte mich. Sie war größer als ich es erwartet hatte und picobello aufgeräumt. Ein halb auseinander gebauter Schrank, wohl aus dem Biedermeier stammend, so genau kenne ich mich damit nicht aus, erweckte mein Interesse. Das war Handwerkskunst, keine Frage, nicht diese sauschweren, mit dünnem Fournier überzogenen Sperrholzteile, wie man sie von dem großen schwedischen Möbelhaus mit den vier Buchstaben kannte, die beim zweiten Mal umziehen, Reif für den Wertstoffhof waren.
»… und da habe ich eben noch die Ausbildung zum Tischler gemacht«, beendete Josef den Satz, wobei er mich stolz anblickte. Ja, stolz durfte er mit Recht sein. Was er in jungen Jahren schon alles geleistet hatte, Chapeau.
»Bernd, ich danke dir, dass du dir die Mühe gemacht hast, dich nach einem geeigneten Bauernhof für uns umzusehen. Ich selbst hätte die Zeit dazu nicht gehabt und Markus wollte ich nicht darum bitten, dann wäre es ja keine Überraschung mehr für ihn«, wandte Josef sich an mich.
»Das habe ich sehr gerne gemacht, ich tue es ja schließlich nicht nur für euch, sondern auch für unseren Enkel. Außerdem können wir dann auch öfter mal kommen, wenn ihr mehr Platz habt und wir nicht jedes Mal ins Hotel müssen«, antwortete ich meinem Schwiegersohn in spe.
»Morgen früh fahren wir zwei uns mal die vier Höfe ansehen, da will Markus mit dem Kleinen und Irene nach München. Michael braucht Kleidung für den Winter. Markus ist froh, dass ihr da seid, dann kann er Irene die Auswahl der Klamotten aufs Auge drücken. Es ist ihm ja wirklich nichts zu viel und er kümmert sich rührend um Michael, aber durch Bekleidungsgeschäfte gehen, gehört nicht zu seinen Stärken. Er geht nicht einmal gerne für sich selbst Textilien einkaufen. Wenn ich nicht vehement mein Veto eingelegt hätte, dann würde er die gesamte Kleidung beim Versandhändler in Hamburg bestellen“, klagte Josef. Das war typisch für Markus, Geduld brachte er nur widerwillig auf. Es musste immer alles schnell gehen, er war immer auf dem Sprung. Irgendwie passte es ja zu seinem Beruf, Journalisten müssen neugierig und schnell sein. Die Schlagzeile von eben ist in der nächsten Sekunde bereits Vergangenheit.
»Josef, Papa, kommt ihr«, hörten wir meinen Junior rufen,
»das Abendessen wird sonst kalt.« Josef löschte das Licht und verschloss die Tür zu seiner Werkstatt. Dann gingen wir über die Außentreppe in ihre Wohnung, wo Markes den Tisch in der Essecke rustikal eingedeckt hatte. Irene saß auf dem Sofa und spielte mit Michael, der am Nachmittag noch gefremdelt hatte. Nachdem sie Michael in seinen Laufstall gesetzt und ihm seine Rassel in die Hand gedrückt hatte, setzte sich Irene und Michaels Gebrüll zu uns an den Tisch. Sie wollte gerade wieder aufstehen, als Markus ihr zu verstehen gab, dass sich das Gebrüll gleich legen würde.
»Bist du nicht müde und erschöpft von der langen Fahrt«, fragte ich Irene, Wenn wir auch ohne Stau durchgekommen waren, so zog es sich doch bis München, vor allem wegen der vielen Baustellen. Irene hatte es vorgezogen über den Spessart zu fahren, da sowohl auf der Karlsruher- als auch auf der Stuttgarter Autobahn Staus gemeldet wurden, kurz nachdem wir losgefahren waren. Jetzt im August waren natürlich wahnsinnig viele Urlauber unterwegs, und mehrfach musste sie auf achtzig runtergehen, wenn wieder mal ein Holländer sein Gespann auf die Überholspur setzte, um die vorausfahrenden Freunde ebenfalls ausscheren zu lassen. Man konnte meinen, ganz Holland sei auf Reisen. Und dann diese LKW-Kolonnen, Fahrzeug an Fahrzeug gereiht. Die Jungs zogen vor allem an den Steigungen raus, wenn sie vermuteten, dass sie mehr PS unter der Haube hatten als der Vordermann. Oftmals ging die Rechnung nicht auf und es dauerte ewig, bis der Überholende sich wieder zurückfallen ließ, in der Hoffnung, dass der bereits an der Stoßstange klebende Laster sein Tempo drosseln würde, damit er wieder auf die rechte Spur wechseln konnte.
»Es geht, verspannt bin ich, bins‘ halt nicht gewohnt so lange Strecken zu fahren. Zum Glück haben wir uns die ausgedehnte Pause im Altmühltal gegönnt. Aber ich werde wohl früh zu Bett gehen«, beantwortete Irene meine Frage.
Während des Abendessens, Markus hatte einen Hackfleischauflauf mit Blumenkohl und Kartoffeln gemacht, kam das Gespräch auf die Dame vom Jugendamt, die inzwischen ein zweites Mal unangemeldet aufgekreuzt war. Irene hatte Kontakt zu jemandem vom Mainzer Jugendamt aufgenommen und vorzufühlen, ob es Sinn machen würde, den Leiter des Münchner Jugendamtes direkt zu kontaktieren. Leider bekam sie keine positive Antwort. Im Zuständigkeitsbereich des Münchner Amtes hatte es innerhalb von zwei Monaten drei Fälle von sexuellen Übergriffen gegeben, bei denen die zuständigen Sachbearbeiter das Unglück hätten verhindern können, wenn sie ihre Augen aufgemacht hätten. Das hatte zur Folge, dass die Leiterin ihren Posten hatten räumen müssen. Der neue Leiter war noch recht jung, wollte Karriere machen und ließ buchstabengetreu die Bestimmungen umsetzten. Es war also höchste Eisenbahn, dass Josef und Markus wenigstens die räumlichen Anforderungen bieten konnten. Darüber, dass ein schwules Paar die Erziehung unseres Enkels in die Hand genommen hatte, ließ sich vor Gericht streiten. Da standen die Chancen für die Jungs nicht schlecht. Ein fähiger Anwalt konnte da viel erreichen. In Markus erweitertem Freundeskreis waren meines Wissens nach wenigstens zwei Anwälte.
Am nächsten Morgen, nachdem Irene mit Markus und Michael die S-Bahn nach München genommen hatten, machten Josef und ich uns auf den Weg, um uns die in Frage kommenden Objekte schon mal von weitem anzusehen. Es war ein warmer Tag, die Sonne brannte vom Himmel und ließ alles in einem freundlichen Licht erscheinen.
Der erste Hof, in der Nähe von Ödenpullach gelegen, war zum einen viel zu groß und zum anderen zu weit abgelegen. Dieser Hof hatte keine Chance, um in die engere Wahl zu kommen. Michael brauchte Spielkameraden, wenn er etwas älter war, und bei diesem Objekt hätten Markus und Josef ihn immer irgendwo hinbringen müssen, oder sogar die Spielkameraden abholen dürfen.
Auch bei dem zweiten Objekt, einem an der Straße von Oberbiberg nach Jettenhausen gelegenen Aussiedlerhof war es die Größe und das Abgelegen sein, was Josef nicht gefiel. Somit blieben nur noch zwei Bauernhäuser übrig.
Der Hof in Deining erwies sich als renovierungsbedürftig, war aber gut gelegen, an  der Hauptstraße in Richtung Egling beziehungsweise Ergertshausen. Die Haltestelle des Schulbusses war keine einhundert Meter entfernt. Deining schien auch groß genug zu sein, um zumindest einen Kindergarten und eine Grundschule zu haben.
»Was meinst du, sollen wir mal anklopfen und fragen, ob wir uns das Haus mal ansehen dürfen?«, Josef sah mich mit fragendem Blick an.
»Fragen kostet nichts, mehr wie nein sagen kann der oder diejenige nicht«, gab ich zu bedenken. Josef wendete den Wagen und stellte ihn einige Meter vom Haus entfernt so ab, dass er den Verkehr nicht behinderte. Dann liefen wir die wenigen Meter wieder zurück und besahen uns das Haus und die dazugehörige Wiese, auf der einige Kühe unter Bäumen Schatten gesucht hatten, näher an. Das Haus hatte gut und gerne schon den ersten Weltkrieg mit erlebt und es schien in den letzten zwanzig, wenn nicht dreißig Jahren, auch keinerlei Renovierungsarbeiten gemacht worden zu sein, zumindest was den äußeren Zustand anbelangte.
Ein etwa fünfundvierzig jähriger Mann erschien in der Tür, nachdem wir am Hoftor geläutet hatten.
»Sie wollen sich sicher das Haus ansehen«, begrüßte er uns, »nur herein in die gute Stube«. Sein oberbayrischer Dialekt war für mich kaum zu verstehen, und als Josef dann ebenfalls im Alpenslang zu reden anfing, gab ich es auf, dem Gespräch folgen zu wollen.
Gute zwei Stunden verbrachten wir damit, uns das Haus und die Stallungen anzusehen, wobei Josef sich immer wieder Notizen machte und sogar auf den Dachboden stieg um sich vom Zustand des Gebälkes ein Bild zu machen.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, brauchten wir nicht auf die Uhr zu sehen, um festzustellen, dass es schon Mittag war. Unsere Mägen knurrten derart laut, dass wir beide lachen mussten.
Josef hatte den Wagen unmittelbar vor einer Gaststätte mit einem einladenden Garten geparkt, was lag also näher, als sich dort zum Essen niederzulassen. Der Speisekarte nach zu urteilen, stammte das Wirtepaar aus Jugoslawien, die Vielfältigkeit der exotischen Gerichte stand im krassen Gegensatz zum Schweinsbraten mit Knödeln und der Schweinshaxe, die als einzige bayrische Gerichte aufgelistet waren.
Josef entschied sich für das Serbische Reisfleisch, ich wählte den Lustigen Bosniak, auf der Karte als Veseli Bosanac vermerkt, ein mit Schinken, Schafskäse und Kräutern gefülltes Rumpsteak, zu dem Kroketten und ein gemischter Salat gereicht wurden. Dazu ließen wir uns ein Helles munden, was in Bayern ja als Grundnahrungsmittel eingestuft wird. Das Essen würde aber etwas dauern, sagte uns die junge Frau in gebrochenem Deutsch, ihr Mann würde alles frisch zubereiten.
»Kein Problem, wir haben Zeit«, antwortete Josef ihr, woraufhin sie uns ein Lächeln schenkte.
Während wir auf das Essen warteten fragte ich Josef, was er von dem Objekt hielt.
»Es gibt einiges zu tun, aber wenn der Preis stimmt, dann können wir vieles von Fachbetrieben richten lassen. Das Haus wurde 1906 errichtet und bis auf die Heizung, die ist erst vor zwei Jahren reingekommen, in den sechziger Jahren zuletzt von Grund auf renoviert worden«, beantwortete Josef meine Frage, bevor er sein Glas hob und mir zuprostete.
»Den vierten Hof schauen wir uns aber schon noch an, oder?«, fragte ich Josef, da es mir schien, als habe er sich schon für dieses Haus hier entschieden.
»Auf alle Fälle«, stimmte er sofort zu. Just in dem Moment kam die Wirtin mit unserem Essen, was nicht nur verführerisch duftete, sondern auch so schmeckte.
Nachdem wir uns gestärkt hatten, fuhren wir nach Miesbach, um uns den letzten Hof anzusehen. Dieser stand aufgrund eines schweren Unfalls, der den Bauer an den Rollstuhl gefesselt hatte, zum Verkauf. Die Frau konnte den Hof allein nicht bewirtschaften und mit dem Erlös aus dem Verkauf sowie dem Schmerzensgeld, was der Bauer von der Versicherung des Schädigers erwartete, konnten sie leben, ohne sich groß einschränken zu müssen, zumal ihr Mann eine Weiterbildung machte und sie davon ausgingen, dass er auch eine Anstellung finden würde. Vor zehn Jahren erst, hatten sie dieses Anwesen am Rand von Miesbach gebaut, so dass sowohl das Haus als auch die Scheune und die Stallungen in einem sehr gutem Zustand waren. Das schlug sich allerdings auch im Preis nieder.
Wir bedankten uns, und fuhren nach Oberhaching zurück, davon ausgehend, dass auch die anderen inzwischen aus München zurück sein würden.
Weit gefehlt, von Irene, Markus und Michael keine Spur. Stattdessen blinkte der Anrufbeantworter und nachdem Josef ihn abgehört hatte, wussten wir, dass sie aufgrund einer S-Bahn Störung in München festsaßen. Wir rätselten noch, wie wir in Erfahrung bringen könnten, wo sie in München waren, als das Telefon erneuet läutete und Markus am anderen Ende der Strippe war. Ob Josef sie abholen könne, die Störung würde sich wohl noch um einige Stunden hinausziehen, wollte er wissen.
»Ich gabele sie am Mariahilfplatz auf«, informierte Josef mich, »da können sie mit der Tram hinfahren und ich muss nicht direkt in die Innenstadt, samstags, und um diese Uhrzeit. Eine dreiviertel Stunde bis Stunde wird’s aber dauern, bis wir hier sind.« Das war für mich kein Problem, ich genoss es, mal ein paar Minuten allein zu sein. Ich nutzte die Zeit, um mir im Fernsehen die Nachrichten anzusehen. Einer Maschine der Air Transat, war auf dem Flug von Toronto nach Lissabon, über dem Atlantik der Sprit ausgegangen und den Piloten war es in letzter Minute gelungen, den Airbus A330 auf dem Militärflughafen Lajas auf den Azoren notzulanden. Offenbar hatte es ein Leck in einem der Treibstofftanks gegeben und die Piloten hatten dies zu spät bemerkt. Es sei mit neunzehn Minuten der längste Gleitflug einer Passagiermaschine gewesen, verlas der Nachrichtensprecher. Da wollte ich auch nicht an Bord gewesen sein, ging es mir durch den Kopf.
Eigentlich hatten wir vorgehabt, am Abend in die Kugler Alm zu gehen, einen nahegelegenen, immer gut frequentierten Biergarten. Das Vorhaben gaben wir auf. Michael war quengelig, ihm fehlte sein Mittagsschlaf. Markus war genervt, schimpfte auf die S-Bahn, vor allem das marode Stellwerk am Ostbahnhof, was wohl für den stundenlangen Ausfall verantwortlich war. Und Irene sah man die Strapazen ebenfalls an. Gestern die lange Fahrt und heute der Trip in die Großstadt.
Als wir an diesem Abend in unserem Hotelbett lagen, fragte mich Irene, wie denn unser Tag gelaufen wäre, ob eines der vier Objekte in die engere Wahl gekommen sei. Ich erzählte ihr in wenigen Worten von den beiden Höfen, die theoretisch in Frage kamen, und dass einer der beiden stark renovierungsbedürftig sei.
»Und welches der beiden Häuser hat dir besser gefallen, welches würdest du nehmen?«, wollte sie wissen.
»Mein Kopf rät mir zu dem Hof in Miesbach, aber wenn es nach meinem Herzen ging, dann würde ich mich wohl für das Anwesen in Deining entscheiden. Das Haus hat einfach Charme. Nur gut, dass ich das nicht entscheiden muss. Ich bin gespannt, was Markus sagt, wenn wir morgen alle zusammen uns die beiden Häuser ansehen«, beantwortete ich Irenes Frage.
»Ohne dass ich eines der Häuser gesehen habe, glaube ich, dass Markus sich wohl für das Haus in Miesbach entscheiden wird«, sagte Irene.
»Oder für keines der beiden Objekte. Ob Markus überhaupt von Oberhaching weg will wissen wir ja nicht. So wie ich ihn vorhin beim Essen verstanden habe, ist er hier ja super in die Mutter-Kind-Gruppe integriert. In Miesbach müsste er wieder von vorne anfangen, und dort wären sie auch wieder die beiden Exoten mit dem Kind«, gab ich zu bedenken.
»Es hätte aber auch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil, das Münchner Jugendamt wäre für Michael nicht mehr zuständig«, murmelte Irene schläfrig.
Als ich ihr den Gutenachtkuss gab, war sie schon fast im Reich der Träume. Wenig später war auch ich eingeschlafen.

Kapitel 13 – Markus

Ich konnte mich kaum auf das Kapitel konzentrieren, dass ich in der Mache hatte. Soeben hatte sich der Radiosprecher in die laufende Musik eingeblendet, mit der Nachricht, dass es in New York zu zwei Anschlägen auf das World Trade Center gekommen sei. An Weiterarbeiten war jetzt nicht mehr zu denken. Ich speicherte mein Dokument, machte das Radio aus und schaltete den Fernseher ein.
Wie in einer Dauerschleife zeigten nahezu alle Sender immer und immer wieder, wie die beiden Flugzeuge in die zwei Türme krachten.
Entsetzen, Fassungslosigkeit hatte von mir Besitz ergriffen, ich konnte nicht glauben, was sich da vor meinen Augen abspielte. Menschen rannten um ihr Leben, es war ein Höllenspektakel, New York ging im Lärm der Sirenen unter.
Just in dem Moment, als auf der Mattscheibe, der erste Turm zusammenkrachte läutete es an  der Haustür. Ich erwartete niemanden. Die Dame, die vor der Tür stand, erwartete ich am allerwenigsten, Frau Brandel vom Jugendamt.
»Sie schon wieder?«, sagte ich anstelle einer freundlichen Begrüßung, und ließ dieses nervige Weib eintreten.
»Ihnen auch einen schönen guten Tag«, ihre Stimme war so eisig, dass einem das Blut in den Adern gefrieren konnte. Aus dem Wohnzimmer drangen die Sirenen und aufgeregte Stimmen diverser Reporter zu uns. Frau Brandel verzog keine Miene, als sie die schrecklichen Bilder im Fernseher sah, als sie das Wohnzimmer betrat. Ohne jegliche Empathie bat sie mich  den Fernseher auszuschalten.
»Der Fernseher bleibt an. Ich bin Journalist. Schon vergessen?«, beschied ich ihr und forderte sie dann auf, zu sagen, was sie zu sagen hatte und dann zu verschwinden. Nicht gerade sehr diplomatisch, zugegebener Maßen. Aber an so einem Tag wohl verständlich.
»Das wird Folgen haben«, fauchte sie, knallte die Kopie eines Schreibens auf den Tisch und machte auf dem Absatz kehrt. Zur Tür brauchte ich sie nicht zu begleiten, sie war schneller wieder draußen, als wie sie hereingekommen war.
Geräusche aus dem kombinierten Büro-Kinderzimmer riefen mir in Erinnerung, dass der junge Mann gleich nach einer Mahlzeit verlangen würde. Aber vorher musste er frisch gewindelt werden. Wie ich Michael kannte, hatte er wieder ordentlich was in der Hose. Und so war es auch. Nachdem ich ihn gesäubert hatte, bekam er einen Obst Brei. Das würde ihm als Zwischenmahlzeit bis zum Abend reichen. Michael, der es nicht gewohnt war, dass der Fernseher lief, wenn er gefüttert wurde, drehte seinen Kopf immer wieder in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Ich hatte den Ton leiser gedreht aber nur so viel, dass ich den Moderator noch verstehen konnte.
Im Lauf des Nachmittags drangen immer mehr Horrormeldungen aus den Staaten zu uns. Noch mehr Flugzeuge waren entführt worden. Eine Maschine war ins Pentagon gekracht, eine weitere sollte wohl ins Weiße Haus oder das Capitol, vielleicht auch in den Landsitz des Präsidenten, Camp David, gesteuert werden, stürzte aber in der Nähe von Shanksville, östlich von Pittsburgh ab.
Beim ersten Crash in den Nordturm des WTC war man zunächst von einem Unfall ausgegangen und hatte die Angestellten, die im Südturm arbeiteten, gebeten Ruhe zu bewahren und an ihren Arbeitsplätzen zu bleiben. Erst als die Boeing 767 der United Airlines, die ebenfalls in Bosten gestartet war, in den Südturm krachte, wurde den Verantwortlichen klar, dass es sich um einen Anschlag handelte, und da erst hatten sie die Evakuierung des World Trade Center angeordnet.
Ich rief meinen Vater an, der bereits nach dem ersten Läuten den Hörer abnahm.
»Das wird Folgen haben«, waren seine ersten Worte, und dann erläuterte er mir ausführlich, wie er die Sache sah. Dass Präsident Bush sich das niemals gefallen lassen würde, allein schon der Schmach wegen, die Amerika erlitten hatte. Osama bin Laden machte man wenige Tage später für den Anschlag verantwortlich.
Mit meinem Vater sprach ich auch nochmals über das Vorhaben meiner Eltern, mir das Haus in Gau-Algesheim, in dem sich die zwei Arztpraxen und eine Wohnung befand, zu überschreiben. Ich hatte bis zu dem Augenblick, indem meine Eltern uns den Vorschlag mit der Überschreibung machten, nicht einmal gewusst, dass das Haus ihnen gehörte. Katharina und ich waren ja in dem Haus, in dem meine Eltern immer noch wohnen, in der Nachbargemeinde aufgewachsen. Unterhalb des Jakobsberges, mit unverbaubarer Sicht ins Rheintal, an einer steilen Straße gelegen. Mich hatte als Kind immer der Anblick der Züge fasziniert, die von Mainz kommend, hinter Gau-Algesheim in einer langgezogenen Rechtskurve Richtung Bingen und durchs mittlere Rheintal, was mittlerweile Weltkulturerbe ist, weiter über Köln bis nach Holland brausten.
Ich fand es nach wie vor nicht richtig, dass meine Eltern mir dieses Objekt überschreiben wollten. Die Mieteinnahmen waren doch sicher als Rentenersatz gedacht gewesen, nun wollten sie darauf verzichten. Wir hatten bei ihrem Besuch lange darüber diskutiert. Auch Josef war alles andere als begeistert vom Vorschlag meiner Eltern, die sich aber nicht davon abbringen lassen wollten.
Es sei alles kalkuliert und auch mit ihrem Steuerberater besprochen, wurde uns beschieden.
Josef und ich hatten, nachdem meine Eltern wieder abgereist waren, uns noch einmal beide in Frage kommenden Häuser angesehen und uns dann für das Haus in Deining entschieden. Das Haus hatte einen ganz eigenen Charme. Mit seinen grünen, halbverfallenen Fensterläden und der rötlich gefärbten Lüftel-Malerei strahlte es eine morbide Eleganz aus. Wir würden zwar fast ein Drittel des Kaufpreises, zusätzlich für die Renovierung aufbringen müssen aber das schreckte uns nicht davon ab, die Sache anzugehen.
Josef hatte meine Mutter eingespannt, damit sie mir seinen Vorschlag, halbtags für ihn zu arbeiten, schmackhaft machte.
Er wunderte sich, dass ich seinen Vorschlag, den er mir am gleichen Abend, als er mir dieses Haus gezeigt hatte, beim Abendessen machte, ohne langes Überlegen annahm.
Später, als wir eng aneinander gekuschelt in unserem Bett lagen, hatte er mir gesagt, dass er Angst davor gehabt hätte, mir, dem Journalisten und angehenden Buchautoren, dieses Stellenangebot zu machen, da ich für die Tätigkeit weit überqualifiziert sei.
»Besser über- als unterqualifiziert«, sagte ich, und fügte hinzu: »dann profitieren wir doch alle davon. Du kannst einigen Leuten Arbeit beschaffen, und damit mehr Aufträge ausführen, was im Umkehrschluss dazu führen wird, dass wir die Schulden schneller los sind. Außerdem bin ich mir gegenüber ehrlich, wenn ich sage, dass es noch lange dauern wird, bis meine Schreiberei so viel einbringt, dass es zumindest die Kosten für Lektorat und Druck deckt.«
»Stell dein Licht mal nicht unter den Scheffel«, neckte Josef mich. »,Dass, was du mir auszugsweise zum Lesen gegeben hast, ist super. Du machst einem dabei süchtig, sich das auch vor Ort anzusehen. Ich wette, dass du über kurz oder lang der Hauptverdiener sein wirst.« Das glaubte ich weniger, hatte aber etwas anderes im Sinn, als die Diskussion weiterzuführen.
Am nächsten Abend telefonierten wir mit den Jungs in Tel Aviv. Dabei erfuhren wir, dass die Israelis in größter Sorge vor einen Angriff einer der vielen arabischen Terrorkommandos waren. Das Militär war in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden. Auch an den Flughäfen hatte man die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Eli fragte, ob das anstehende Oktoberfest denn in gewohnter Form stattfinden würde. Darüber wurde im Stadtrat noch diskutiert, eine endgültige Entscheidung wurde am neunzehnten September erwartet. Traditionsgemäß würde am kommenden Samstag Punkt Zwölf Uhr, es aus dem Mund des amtierenden Münchner Oberbürgermeisters, Christian Ude, »O’zapft iss« heißen. Seit 1993 hatte er sich darin geübt mit maximal drei Schlägen das Fass anzuzapfen und dem Landesvater das erste Glas Wiesn-Bier zu reichen.
»Bis ihr am übernächsten Freitag fliegt, wissen wir mehr«, beantwortete ich Elis Frage. Wir redeten noch eine Weile über die Fortschritte, die Michael altersgemäß machte, bevor wir das Telefonat beendeten.
Auf das Anzapfen und den Einzug der Wiesn-Wirte verzichtete man dann in diesem Jahr, und das Fest fand allgemein ruhiger und gedämpfter statt. Vielen Münchnern war noch das Bombenattentat von 1980 in Erinnerung, bei dem achtundsechzig Menschen, darunter der Attentäter, den Tod fanden und zweihundert und dreizehn verletzt wurden, achtundsechzig davon schwer. Damals hatte man entschieden, dass man sich dem Terror nicht beugen durfte, und das Fest nach zweitägiger Unterbrechung fortgeführt, wie bei der Olympiade 1972, wo es geheißen hatte: »the show must go on«.
Eli und Joshua kamen am Freitag vor dem zweiten Wiesn-Wochenende, an dem man den Eindruck hat, dass ganz Italien in München ist. Dieses Mal hatte ich sie, zusammen mit Michael, am Flughafen abgeholt. Glücklicherweise war ihr EL AL Flug nahezu pünktlich, so dass ich in der Ankunftshalle nicht lange auf sie warten musste.
Erwartungsgemäß fremdelte Michael beim Anblick der schwarzbehaarten fremden Gesichter, was Eli und Joshua aber nicht davon abhielt sein Gesichtchen mit Küssen zu bedecken. Das Gebrüll, was daraufhin einsetzte, war geeignet, den geschäftigen Lärm in der Halle zu überbieten.
Als wir abends, nachdem Michael gefüttert und zu Bett gebracht worden war, zu Tisch saßen, erzählte Eli von den Bemühungen seines Vaters, seinen Enkel in seine Obhut bekommen. Dieses Thema war ja nicht neu, aber der Facettenreichtum, wie er es anzustellen gedachte, fand auch meine Bewunderung. Sein Anwalt musste wohl über das deutsche Konsulat in Tel Aviv versucht haben, meinen Wohnsitz ausfindig zu machen. Allerdings wohl ohne Erfolg.  Nur wenn ich in Israel eine Straftat begangen hätte, wäre aufgrund bilateraler Abkommen die Weitergabe dieser Information möglich gewesen. Und eine Straftat hatte ich mit dem Abschalten des Beatmungsgerätes definitiv begangen.
»Was will er mit meiner Adresse?«, fragte ich Eli. Mir war nicht ganz wohl und ich wollte mir nicht ausmalen, was sich da schon wieder Unheilvolles zusammenbraute.
»Ich weiß es nicht«, Eli zog bedauernd die Schultern hoch.
Josef, der sich denken konnte, was in mir vorging, versuchte mich zu beruhigen.
»Markus, mein Schatz, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Ich glaube nicht, dass in absehbarer Zeit hier jemand aufkreuzt, um uns Michael wegzunehmen, ausgenommen die Tante vom Jugendamt.«
Jetzt war es an Eli und Joshua zu fragen, um was für Probleme es sich da handele und so erzählten wir beide ausführlich, von ihren Besuchen und unseren Bemühungen, ein neues Zuhause für uns zu finden. Natürlich waren wir stolz darauf, ihnen sagen zu können, dass wir ein passendes Haus gefunden hatten, und wie wir es renovieren und nach unseren Vorstellungen umbauen wollten. Natürlich waren sie begierig darauf, sich das Haus anzusehen, und so fuhren wir in der nächsten Woche an einem Nachmittag nach Deining.
Der Besuch des Oktoberfestes war trotz der gedämpften Stimmung und des miserablen Wetters, ein voller Erfolg. Eli und Josh hatten ihren Spaß und konnten nach ihrer Rückkehr den zahlreichen Freunden von ihren Erlebnissen berichten. Sie beide waren im Bierzelt das Objekt der Begierde zweier nicht mehr ganz nüchterner Australierinnen geworden, die es nicht geschnallt hatten, dass sie es mit einem Homopaar zu tun hatten. Die Damen waren sehr zutraulich und hatten auch nicht davor zurückgeschreckt, den Jungs in die Hosen zu greifen.

Kapitel 14 – Josef

Den Durchschlag des Schreibens von Frau Brandel fand ich zufällig, als ich in dem kleinen Sekretär, in unserem kombinierten Arbeits-Kinderzimmer, nach der Adresse eines befreundeten Bauunternehmers suchte.
„… empfehle ich, das Kind Michael Mendel, geboren am 24.12.2000 in Bethlehem, derzeit bei seinem leiblichen Onkel, Markus Mendel,….,in die Obhut eines Kinderheimes zu geben.« Wieso hatte Markus mir von dem Schreiben nichts gesagt? Wie es sich herausstellte, hatte er es in dem ganzen Trubel um die Anschläge, schlichtweg einfach vergessen.
»Du wirst einen erfahrenen Anwalt brauchen, denn ohne richterliche Entscheidung wird Michael keinesfalls aus unserer Obhut genommen werden. Dafür garantiere ich«, sagte ich zu ihm, nachdem ich den Umstand des Erhalts dieser unsäglichen Unverschämtheit erfahren hatte.
»Dann kommen schon wieder Kosten auf uns zu«, jammerte Markus, der sich zum wahren Finanz-Jongleur entwickelt hatte. Ich bewunderte immer wieder, wie er es schaffte, mit dem Wenigen, was er hatte, sämtliche Ausgaben zu bestreiten.
»Lass es kosten, was es will. Wenn wir gewinnen, wovon ich felsenfest überzeugt bin, zahlt die Gegenseite«, versuchte ich Markus zu ermutigen, wobei ich mir da gar nicht so sicher war, was das Gewinnen anbelangte. Recht haben und Recht bekommen sind bekanntermaßen zweierlei Dinge.  Aber ich wollte mich nicht entmutigen lassen. Wir waren auf dem besten Weg, die Voraussetzungen zu schaffen, damit Michael ein eigenes Zimmer bekam.
Der Hof in Deining gehörte  uns bereits. Am elften Oktober hatten wir, bei einem Notar in Wolfratshausen, die Papiere unterschrieben. Zwei Tage, nachdem der amerikanische Präsident George W. Bush, in einer von den Medien durchgeführten Umfrage, mit 92% den höchsten, jemals ermittelten, Wert an Zustimmung für seine Politik erhielt. Einen solchen Wert hatte nicht einmal John F. Kennedy, nach dem Abwenden der Bedrohung durch die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba, erhalten.
Etwa zur gleichen Zeit, in der wir Eigentümer dieses Anwesens in der Münchner Straße wurden, erhielt der britische Autor V.S. Naipaul in Stockholm den Literatur Nobelpreis. Eines seiner bekanntesten Werke ist „Der mystische Masseur“, ein Buch, das keiner von uns beiden kannte, wie wir abends feststellten, als wir die Nachrichten im ZDF sahen.
Bis zum Ende des Monats hatte der Vorbesitzer Zeit, den Hof zu räumen. Am fünften November sollten Umbau und  Renovierung beginnen. Da Allerheiligen auf den Donnerstag fiel, mussten wir die Kröte schlucken, dass nicht schon am zweiten mit den Arbeiten begonnen wurde. Die Baufirma gönnte ihren Mitarbeitern diesen Brückentag.Wenn alles gut lief, würden wir Mitte nächsten Jahres in unser neues Domizil einziehen können.
Markus hatte einen Studienkollegen kontaktiert, dessen älterer Bruder Jura studiert und anschließend mit zwei Kommilitonen eine eigene Kanzlei eröffnet hatte. Über diesen Kontakt fand er eine Anwältin, deren Fachgebiet Familienrecht war, und die ihn fortan beraten und wenn nötig, gerichtlich vertreten würde. In einem ausführlichen Schreiben zerpflückte sie den Brandelschen Bericht geradezu. Eine Baustelle weniger, dachte ich, als ich ihren Brief las.
Ich hatte mehr zu tun als je zuvor. Der Innenausbau des Hotels war in der Endphase. Nachdem in allen 96 Zimmern die Schränke eingebaut waren, waren wir nun, mit sechs Leuten, damit beschäftigt, den Frühstücksraum mit der integrierten Bar fertigzustellen. Das würde wahrscheinlich das letzte Projekt mit mehreren Subunternehmern sein. Auf meine Stellenanzeige, in einer lokal erscheinenden Zeitung, hatten sich mehr junge Tischler und Schreiner gemeldet, als ich einstellen konnte. Allerdings erbot sich mir dadurch die Möglichkeit, die Besten auszuwählen. Zum ersten Januar wollte ich die neuen Mitarbeiter einstellen. Ab dem Zeitpunkt würde auch Markus auf meiner Lohnliste stehen. Das hatte ich alles im Laufe des Monats mit meiner Steuerberaterin durchgesprochen. Seitdem ich das Unternehmen übernommen hatte, kümmerte sie sich um meine Steuerabschlüsse sorgte dafür, dass alle Meldungen rechtzeitig beim Finanzamt eingereicht wurden. Auch bei der Kalkulation der Personalkosten war sie eine unerlässliche Stütze.
Mit zwei anderen Schreinereien war ich im Gespräch darüber, ob wir unsere Aktivitäten nicht bündeln und gemeinsam eine Kooperative gründen sollten. Mit beiden Schreinern hatte ich die Meisterschule besucht, so dass ich ihre Stärken und Schwächen kannte. Die Qualität ihrer Arbeit konnte man sich in vielen Häusern ansehen. Zusammen, so dachte ich, wären wir viel besser aufgestellt. Jeder von uns war auf einem anderen Gebiet spezialisiert, und bei dem ständigen Konkurrenzkampf, vor allem aus den Billiglohnländern, war es von Vorteil, wenn man Kosten senken konnte. Aber von der Kooperative waren wir noch ein ganzes Stück entfernt. Da würde ich noch viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, bis sich der Gedanke in den oberbayrischen Sturschädeln einnistete.
Auf die Idee mit der Kooperative hatte mich Joshua gebracht, der, während ihres Besuches im letzten Monat, von der Zeit berichtete, die er in einem Kibbuz verbracht hatte. Seine Großeltern, die in mehreren polnischen Städten große Kaufhäuser besessen hatten, waren nach der Enteignung nach Israel emigriert und so dem berüchtigten Warschauer Ghetto entgangen.
»Ihr müsst euch das einmal bildlich vor Augen führen«, hatte Josh gesagt. »Meine Vorfahren haben schon immer Handel getrieben und meine Ururgroßeltern das erste, sicher noch sehr bescheidene Warenhaus in Lódź eröffnet, zu dem in den darauffolgenden Jahrzehnten Kaufhäuser in Krakau, Warschau, Danzig, Brest sowie Breslau, Lemberg und Vilma dazukamen. Durch den Pakt, den Hitler mit Stalin geschlossen hatte, demzufolge die Rote Armee am 17. September 1939 in Ostpolen einmarschierte und dieses Gebiet besetzte, hatten es meine Großeltern plötzlich mit neuen und unterschiedlichen Verwaltungen zu tun.« Gebannt hingen wir an seinen Lippen, selbst Eli schien einiges von dem, was Josh im Laufe des Abends noch erzählte, zum ersten Mal zu hören. Als die Hatz der Deutschen Besetzer auf die Juden begann, ging es mit den Konsumtempeln schnell bergab, zumal sich die nichtjüdische polnische Bevölkerung, traditionsgemäß antisemitisch eingestellt, an dieser Hetze beteiligte und die Läden boykottierte. Für einen Bruchteil ihres Wertes waren sie in die Hände von Spekulanten geraten, die es schon immer verstanden hatten, sich in Kriegszeiten zu bereichern.
Als seine Großeltern 1941 Palästina erreichten, hatten sich sowohl sein Opa als auch seine Großmutter der Hagana angeschlossen. Außerdem waren sie in eines der ersten Kibbuze gezogen, am See Genezareth gelegen, wo die Kibbuzim Landwirtschaft betrieben. Wie schon seine Mutter und deren Geschwister, seien auch er und seine Brüder und Schwestern dort aufgewachsen.
»Wir lebten in einer eigenen Gruppe, getrennt von Eltern und Geschwistern, mit Gleichaltrigen zusammen. Jedes Jahr bekamen wir eine neue Metapelet, eine Kinderfrau, die für unsere Erziehung zuständig war. Unsere Eltern sahen wir nur bei den Mahlzeiten, die gemeinsam im Chadar Ochel, dem Speisesaal, eingenommen wurden. Jedoch im Laufe der Zeit änderte es sich dahingehend, indem aus den Kinderhäusern immer mehr Kindergärten wurden, und immer mehr  Eltern mit ihren Kindern, als Familie, zusammenlebten , beendete Josh den kleinen Ausflug in seine Kindheit.
»War das nicht schrecklich, die Eltern nur zu den Mahlzeiten zu sehen?«, wollte Markus wissen.
»Ja, nein? Offen gestanden weiß ich nicht wie ich deine Frage beantworten soll. Sagen wir mal so: wenn du es von klein auf nicht anders kennst, dann fehlt dir das Gefühl, etwas zu vermissen nicht. Ja, ich glaube, dass drückt es am besten aus«, beantwortete Josh Markus Frage.
Später, als wir eng aneinander gekuschelt im Bett lagen, meinte Markus: »Grausam, diese Vorstellung. Da wächst so ein kleiner Mensch von Geburt an in einem Kinderhaus, Kinderheim könnte man schon sagen, ohne liebevolle Umarmung seiner Eltern auf. Und für die ist das auch noch absolut normal.«
»Ich kann es mir auch nicht vorstellen, dass wir unseren kleinen Sonnenschein von einer fremden Frau erziehen lassen würden, wissend, dass er nur wenige Meter entfernt von uns lebt«, stimmte ich Markus zu.
In der darauffolgenden Nacht hatte ich wirre Träume, mein Gehirn, schien das Gehörte einordnen und verarbeiten zu wollen. Was mir am nächsten Morgen davon in Erinnerung geblieben war, war ein altes rostiges Schiff, das auf Land zusteuerte, darauf viele Menschen die sich lachend und weinend in die Arme fielen und, auf den Horizont deutend, Palästina, Palästina riefen.

Kapitel 15 – Irene

Die Läden waren schon um diese frühe Uhrzeit, kurz vor elf Uhr, brechend voll. Was würde das erst am Nachmittag werden, dachte ich bei mir, als ich  mich in die Schlange vor der Kasse einreihte. Für Michael hatte ich damit alles, was er zu Weihnachten und zum Geburtstag bekommen sollte. Jetzt musste ich nur noch etwas für Markus und Josef finden, und auch für Eli und Joshua brauchte ich eine Kleinigkeit, denn diese würden das Weihnachtsfest mit uns zusammen verbringen.
Als Markus mir vor einigen Wochen am Telefon erzählt hatte, dass Eli den Vorschlag gemacht hatte, sich an Silvester auf Zypern zu treffen, und Josef und Markus noch am Überlegen waren, ob sie sich diesen Trip leisten wollten, schließlich steckten sie mitten im Umbau, war mir die Idee gekommen Weihnachten und Silvester zusammen mit der kleinen Familie, und den beiden Israelis, bei uns im Rheinland zu feiern. Markus hatte anfänglich noch gezögert und auch Bernd war zurückhaltend gewesen aber Josef fand den Vorschlag gut und so hatten wir uns darauf geeinigt.
Zum ersten Mal, seit die Kinder aus dem Haus waren, hatten wir unser Heim wieder vorweihnachtlich dekoriert. Bernd hatte sich letzte Woche sogar am Plätzchenbacken versucht und das Ergebnis konnte sich durchaus sehen lassen.
Nachdem ich endlich den Traktor bezahlt hatte, eine Lauflernhilfe für Michael, quälte ich mich mit der Riesentüte durch die Budengänge des Weihnachtsmarktes, noch um die Entscheidung ringend, ob ich ins Dom Café wollte, mit seinen zertretenen Läufern, oder doch lieber ins Café am Markt, wo ich wahrscheinlich genauso wenig Chancen auf einen Tisch hatte. Mit diesem Ungetüm hatte ich wahrscheinlich weder in dem einen noch dem anderen Café eine Chance. Ich entschied zunächst einmal den Trecker im Auto zu verstauen, das ich in der Parkgarage am Rathaus geparkt hatte, wo ich meist zu parken pflege, wenn ich in Mainz zu tun habe, da sie verkehrstechnisch die perfekte Lösung darstellt, und danach noch einmal zum Markt zurückzulaufen. Etwas Bewegung konnte nicht schaden. Ich hatte Glück, in dem Moment, als ich das Café am Markt betrat, erhob sich an einem Zweiertisch am Fenster, ein älteres Paar.
Während ich das französische Frühstück, mit Brioche, Honig aus der Provence und Camembert aus der Normandie, genoss, schweiften meine Gedanken zurück in das vergangene Jahr, wo wir um diese Zeit noch nicht wussten, welche Katastrophen über uns hereinbrechen würden.
Wenn ich bedachte, dass wir uns um diese Zeit darauf gefreut hatten, zum ersten Mal Großeltern zu werden, und wie das Schicksal dann unbarmherzig zugeschlagen und alles seinen Lauf genommen hatte, dann konnte ich mehr als zufrieden sein, so wie es jetzt lief. Sicher, Katharinas und Moshes Tod, hatten die Freude über Michaels Geburt, mehr als verdüstert. Andererseits hätte Bernds Schlaganfall viel schlimmer ausgehen können, insofern mussten wir dankbar sein. Markus war über sich selbst hinausgewachsen, als er in die Vaterrolle schlüpfte, und Josef fand meine grenzenlose Bewunderung dafür, wie er sich um die kleine Familie bemühte. Bei dem ganzen Trubel, waren Geburtstage untergegangen, aber im nächsten Jahr, nahm ich mir vor, würden wir wieder damit beginnen, auch unsere eigenen Geburtstage zu feiern. In dreiundzwanzig Tagen hatte Michael Geburtstag, wurde er schon ein Jahr alt.
»Darfs bei Ihnen noch etwas sein«, die Stimme der Kellnerin riss mich aus meinen Gedanken.
»Danke, nein, aber ich würde gerne zahlen«, beantwortete ich die Frage. Nachdem ich das Café verlassen hatte, drängte ich mich nochmals durch die immer voller werdenden Budengassen, um zur Dombuchhandlung zu gelangen, wo ich hoffte, etwas geeignetes für Eli und Joshua zu finden. Vielleicht etwas über Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, den Sohn der Stadt, der um 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand, und der von seinem Denkmal, unweit des Doms auf dem Gutenbergplatz stehend, hinüber zum Landestheater blickt.  In englischer Sprache sollte ja wohl etwas zu finden sein, wenn nicht Gutenberg, dann vielleicht etwas über die Römer, die den Weinbau nach Deutschland gebracht haben.
Auch in der Buchhandlung traten sich die Menschen buchstäblich gegenseitig auf die Füße.
»Leider nein«, beschied mir die Buchhändlerin, »versuchen Sie es doch mal direkt im Gutenbergmuseum, die könnten da so etwas haben.« Auf diese Idee hätte ich auch selbst kommen können und mir die ewige Warterei im Gedränge erspart.
Im  Museumshop wurde ich tatsächlich fündig und erwarb für Eli und Joshua jeweils ein Miniaturbuch des englischen Schriftstellers Doyle. Wer welches bekam, würde ich beim Verpacken entscheiden. Nachdem ich diese Geschenke nun hatte, war mein Bedarf Weihnachtseinkäufe zu tätigen, gedeckt.
Als ich am frühen Nachmittag die Haustür aufschloss, schlug mit der Geruch von Vanille und weiteren Aromen entgegen, und aus der Küche hörte ich Bernds Stimme, der offenbar bestens gelaunt, Bing Crosby bei White Christmas zu unterstützten versuchte.
»Da bist du ja wieder, wie  war es«, begrüßte mich Bernd.
»Entsetzlich, sei froh, dass du nicht mitgekommen bist. Die Stadt ist brechend voll«, antwortete ich und schälte mich aus meinem Mantel.
»Kein Wunder, die haben alle Geld bekommen, wir haben den Ersten. Und dann auch noch Weihnachtsgeld dazu«, sagte Bernd und öffnete die Ofentür. Der Geruch, der dem Ofen entströmte, weckte bei mir ein Hungergefühl. Dabei hatte ich doch vor nicht allzu langer Zeit ausgiebig gefrühstückt.
»Mein Gott, du backst wie ein Lebzelter«, neckte ich Bernd, als er das Blech mit den lecker aussehenden Lebkuchen auf der Anrichte abstellte und ein weiteres Blech in den Ofen schob. »Wer soll das alles essen?«
»Na, wer wohl?«, lachte er, »die Jungs werden da nicht viel von übriglassen. Das sind gestandene Männer und zeig du mir mal einen Mann, der nichts Süßes mag.« Da mir eher nach etwas herzhaftem war und die Uhr sich langsam, aber sicher auf die Vier zubewegte, machte ich Bernd den Vorschlag, am frühen Abend nach Heddesheim zu fahren, um dort etwas Deftiges zu essen. Ein Vorschlag, dem er gern zustimmte, denn nach dem Backen hatte er  gewiss keine Lust mehr, etwas zu kochen.
In der folgenden Woche rief mich eines Abends Josef an und berichtete, dass Markus zusehends depressiver werde. Mittlerweile befand Markus sich in therapeutischer Behandlung, weswegen Josef diesen Schub nicht nachvollziehen konnte. Mir war schon klar, dass es noch viel zu früh war, um bei Markus Psyche von einer Stabilisierung ausgehen zu können. Solche Rückfälle würde es noch öfter geben, vor allem, an Geburtstagen und eben Weihnachten, wo wir ja am fünfundzwanzigsten Katharinas ersten Todestag hinter uns bringen mussten. Ein Spagat für uns alle, ein Tag vorher Michaels Geburtstag feiern und nahtlos seine Mama betrauern.
»Wann kommt ihr denn nun?«, fragte ich Josef, nachdem er mir sein Leid geklagt hatte.
»Am Freitag, dem einundzwanzigsten, hatten wir gedacht. Ich möchte morgens noch meinen Vater besuchen, auch wenn er mich nicht mehr erkennt«, beantwortete Josef meine Frage. Er tat mir leid, ihm blieb wirklich nichts erspart und ich fragte mich oft, woher er die Kraft nahm, dies alles zu meistern. Ein weniger gefestigter Mensch hätte längst die Flinte ins Korn geworfen und wäre stiften gegangen. Aus meiner Praxis kannte ich genügend Fälle, in denen es so gelaufen war.
»Wechselt ihr euch beim Fahren wenigstens ab?«, holte ich ihn in die Realität zurück, bevor er rührselig wurde.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, lachte Josef, »du weißt ja, dass ich nicht gerade der beste Beifahrer bin, und Markus mir zu defensiv fährt. Bei dem Tempo, mit dem er unterwegs ist, brauchen wir bestimmt eine Stunde länger.« Im Hintergrund hörte ich Markus protestieren, der inzwischen wohl Michael zu Bett gebracht hatte, und nun das Telefonat mitbekam.
»Irene, ich muss Schluss machen, dein Sohn steht neben mir und reißt mir fast den Hörer aus der Hand. Grüße bitte Bernd von mir«. Ich hatte kaum Zeit, mich von Josef zu verabschieden, da hörte ich auch schon Markus, der wissen wollte, ob Josef mit mir wegen Weihnachten gesprochen hätte. Da ich nicht wusste, ob und wieviel Markus vom ersten Teil des Gespräches zwischen Josef und mir mitbekommen hatte, verhielt ich mich zunächst zurückhaltend.
»Er hat dir doch sicher gesagt, dass er meint, ich wäre dabei, mich wieder in einer Depression zu vergraben«, drang Markus Stimme an mein Ohr.
»Markus, Josef macht sich Sorgen, er hat Angst um dich. Sei dankbar, dass er so sensibel reagiert. Oder wolltest du einen Macho als Partner? Dann hättest du dir einen anderen Mann suchen müssen«, versuchte ich die Wogen zu glätten, bevor der Wellengang einem Orkan glich.
»Nein, natürlich will ich keinen Macho. Und natürlich bin ich dankbar. Ich weiß doch selbst nicht, was mit mir los  ist«, aus seiner Stimme klang die pure Verzweiflung. Markus hatte wirklich einen Schub. Vielleicht sollte man ein leichtes, stimmungshebendes Medikament einsetzen. Das hätte ich bei meinen Patienten zumindest in Erwägung gezogen.
»Was sagt denn deine Therapeutin?«, tastete ich mich behutsam vor, »hat sie dir denn Medikamente empfohlen?« Nun musste Markus Farbe bekennen.
»Ja, das war das Erste was sie gemacht hat, kaum dass sie wusste, worum es geht.« Schweigen, am anderen Ende der Leitung. Ich sagte nichts, wartete darauf, dass Markus das Gespräch fortführte.
»Du weißt doch, dass ich keine Medikamente nehme«, erklang, nach einer gefühlten Ewigkeit, trotzig Markus Stimme.
»Manchmal ist es sinnvoll, sich dem Rat seiner Ärzte anzuschließen«,  sagte ich, »es hilft nichts, sich selbst zu quälen, nur um seinen Prinzipien treu zu bleiben.« Wir telefonierten noch eine ganze Weile und ich versuchte Markus Gedanken in eine positive Richtung zu lenken, indem ich ihm zu verstehen gab, dass sowohl seine Schwester als auch Moshe bestimmt sehr stolz auf ihn seien, wenn sie von einer anderen Ebene aus seine Bemühungen verfolgten.
In der darauffolgenden Nacht fand ich fast keinen Schlaf. Zwar schlief ich relativ schnell ein, wachte aber nach kurzer Zeit aus einem Alptraum auf und fand danach nicht mehr in einen erholsamen Schlaf zurück. Lange lag ich grübelnd wach und wurde mir bewusst, dass ich meine Trauerarbeit nicht geleistet hatte, nicht einmal ansatzweise. Auch bei mir machte sich die Verzweiflung mit einem Schlag breit. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich wie gerädert.
Bis kurz vor Weihnachten hatte ich viel zu tun, zumal sich auch noch offenbar alle meine Patienten mit einer Erkältung, wenn nicht sogar, grippalem Infekt, in die Praxis schleppten. Für Markus und Josef hatte ich immer noch kein Geschenk, und war gezwungen, am Samstag vor dem dritten Advent nochmal in die Stadt zu fahren. Dieses Mal begleitete Bernd mich, was das Tempo erheblich drosselte, da er immer noch das Bein nachzog. Außerdem wollte er, wenn wir schon in Mainz waren, den Weihnachtsmarkt besuchen. Das ließ sich eh kaum vermeiden, da ich wieder in der Rathausgarage geparkt hatte, und wir auf dem Weg in die Altstadt, wo wir in einem winzig kleinen Café zu frühstücken gedachten, den Weg durch die Budenstraßen nehmen mussten, wollten wir nicht einen größeren Umweg in Kauf nehmen.
Bernds Idee, in diesem Café zu frühstücken, erwies sich als Glücksfall, denn beim anschließenden Bummel durch die Altstadt, wo es bei weitem nicht so voll war, kamen wir an einem Trödelladen vorbei, dessen Auslage uns dazu animierte, mal reinzugehen und uns umzuschauen. Tatsächlich fanden wir nach kurzer Zeit, das Untergestell eines antiken Nähmaschinentisches, mit der Tischplatte und dem Treibrad. Der  Preis schien angemessen, aber wir hatten ein Problem damit, wie wir dieses schwere Teil nach Hause bringen sollten.
»Oh, das ist eine ganze Ecke weg«, meinte der ältere Herr, der seinem Auftreten nach, wohl der Besitzer zu sein schien. »Warten Sie mal, vielleicht gibt es eine Lösung«, sagte er und verschwand in einem Nebenraum. Als er nach kurzer Zeit wiederkehrte, strahlte er und erklärte uns, dass ihm eingefallen sei, dass einer seiner Angestellten ja in unserer Nachbargemeinde Dromersheim wohne, und sich bereit erklärt hätte, den Tisch auf seinem Nachhauseweg bei uns vorbei zu bringen.
»Der junge Mann schlägt dabei zwei Fliegen mit einer Klappe. Er kann mit dem Firmenwagen nach Hause fahren und muss nicht erst mit dem Zug nach Bingen und dann  mit dem Bus weiter. Und am Montagmorgen hat er den Vorteil ein zweites Mal.
Auf dem Weg vom Café zu dem Trödler hatte es bereits angefangen, leicht zu schneien, im Verlauf des Tages wurde daraus mäßig starker Schneefall, und als abends, kurz vor neunzehn Uhr der junge Mann den Tisch lieferte, schneite es heftig.
Bernd und ich halfen mit, den Tisch aus dem Wagen zu heben und ins Haus zu bringen. Ich steckte dem jungen Mann einen Zwanziger zu, worüber er sich sichtlich freute, und schaute dann den langsam kleiner werdenden Rücklichtern nach, bis sie nach der scharfen Rechtskurve nicht mehr zu sehen waren. Auf der steilen Straße war es in den vergangenen Jahren, vor allem bei so einem Wetter, immer wieder zu Unfällen gekommen, die jedoch meist glimpflich ausgingen.
Am nächsten Morgen machten wir uns auf, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Wir hatten eine bestimmte Vorstellung, wie er aussehen sollte. Uns schwebte eine dichtgewachsene, etwa zwei Meter hohe Colorado Tanne vor, deren zerriebene Nadeln einen wunderbaren, zitronigen Duft hervorbringen. Vor vielen Jahren, die Kinder mochten damals etwa Vier oder Fünf gewesen sein, hatte Bernd einen solchen Baum angeschleppt und infolge kam für uns kein anderer Baum mehr in Frage.
Wir waren an diesem dritten Advent sehr lange unterwegs, bis wir bei einem Weihnachtsbaumverkäufer in Bad Sobernheim ein Exemplar fanden, das unseren kritischen Blicken standhielt. Es dunkelte fast schon, als wir die Rückfahrt antraten.
Die nächsten zweieinhalb Tage vergingen wie im Flug. Da die Praxis ab Mittwochnachmittag bis nach Neujahr geschlossen war, was wir unseren Patienten seit mehreren Wochen mit einem Hinweis am Tresen und beidseitig an der Eingangstür befestigt, kundtaten, strömten sie in Massen herbei, meist aber nur um schnell noch ein Rezept ausgestellt zu bekommen.
Als die letzte Patientin kurz nach dreizehn Uhr die Tür hinter sich geschlossen hatte, setzten wir uns zu einem gut zweistündigen Kaffeeplausch zusammen, bei dem meine Mädels ihre Geschenke erhielten. Eine Weihnachtsfeier gab es schon seit Jahren nicht mehr. Stattdessen machten wir alljährlich im Frühsommer einen eintägigen Betriebsausflug.
Bernd und ich hatten uns vorgenommen, den Baum am Spätnachmittag zu schmücken. Umso überraschter war ich, als ich kurz nach halb vier unser Wohnzimmer betrat, und den Baum bereits aufgestellt und mit der Lichterkette versehen vorfand. Bernd hatte unseren Nachbarn Rainer gebeten, ihm beim Aufstellen des Baumes behilflich zu sein, wozu dieser gern bereit war und seinen Filius dazu vergattert hatte, ihnen dabei zu helfen. Die drei Männer oder besser gesagt, zwei Männer und der Teenager saßen am Esstisch und begutachteten ihr Werk. Dass sie das nicht ohne ein Glas Bier taten, versteht sich von selbst. Wobei ich es nicht unbedingt gut fand, dass der knapp siebzehnjährige Volker um diese Uhrzeit bereits Alkohol trank.
Als wir uns an diesem Abend zu Tisch setzten, leuchtete der Baum, den wir, wie vor vielen Jahren, mit dem alten Holzschmuck dekoriert hatten.

Es wurde spät, bis die kleine Familie am Freitag vorm Fest eintrudelte. Der Wintereinbruch, dazu der Ferienbeginn, auf der Autobahn hatte es mehrere Staus gegeben. Entsprechend müde sahen sie alle aus, einschließlich Michael, der kurze Zeit später, bereits in seinem Bettchen lag und schlief.
»Mama, wie schön«, hatte Markus angesichts des Baumes gesagt, dann liefen ihm bereits die Tränen.
»Wow, ist der toll«, war Josefs Kommentar gewesen, bevor er Markus in den Arm genommen hatte und ihn tröstete.
Als wir samstags beim Frühstück saßen, hatte sich Markus Stimmung wieder aufgehellt. Dafür sorgte schon Michael, der, nun wach und munter, ohne Unterlass vor sich hin brabbelte.
»Das macht er ständig, sobald er wach ist, erzählt er sich etwas. Und nichts ist vor seinen Händen sicher«, klärte Markus uns auf. Das hätte er nicht erwähnen müssen, denn gerade als er es sagte, bekam Michael eine Vase zu fassen, die unmittelbar darauf in tausend Scherben am Boden lag, woraufhin er zu greinen anfing. Markus wollte schon von seinem Stuhl aufspringen, als ich ihm zuvorkam und zu ihm sagte:
»Iss du mal weiter und lass das mal die Oma machen«, woraufhin ich Josef zustimmend nicken sah.
»Na, junger Mann«, sagte ich zu meinem Enkel, nachdem ich ihn auf den Arm genommen hatte, wo er sich gleich wieder beruhigte und los brabbelte. »Hast dir gedacht, das scheußliche Ding braucht die Oma nicht mehr, Mhh?«. Mit seinen braunen Augen schaute er mich groß an.
»Ist nicht schlimm, dein Opa hat auch schon ein paar Vasen kaputt gemacht, bei ihm springen die komischerweise immer von selbst vor den Staubsauger.« Damit hatte ich Bernd ein Stichwort gegeben, der nun den Jungs erzählte, dass er beide Bodenvasen, rein zufällig und unbeabsichtigt, in die Hölle geschickt hatte.
»Ja, ja, unbeabsichtigt«, sagte Markus, »kannst ruhig zugeben, dass du die ollen Dinger noch nie leiden konntest.« Damit hatte er recht, Bernd hatte sich von Anfang an gewehrt, dass wir diese Vasen aufstellten, obwohl sie Erbstücke seiner Mutter waren.
»Wann landen denn die Israelis«, lenkte Bernd ab.
»Planmäßig um kurz nach Eins, das heißt, wir müssen spätestens kurz nach halb zwölf los«, beantwortete Josef Bernds Frage.
»Den Kleinen lasst ihr aber hier, oder?«, mit fragendem Blick sah ich die Beiden an, hoffte darauf, mal ein paar Stunden allein mit meinem Enkel verbringen zu dürfen.
»Macht dir das denn auch nicht zu viele Umstände?« Die Frage war so typisch für Josef. Immer war er bemüht, dass alle es komfortabel hatten.
»Ach, i wo, Umstände, was sind denn das für Worte«, wehrte ich ab. Wir sahen den Kleinen eh viel zu selten und was hatte er in der Zwischenzeit für Fortschritte in seiner Entwicklung gemacht. Er konnte ja fast schon laufen und auf das erste Wort warteten wir schon mit Spannung. Es konnte nicht mehr lange dauern. Ich glaube die beiden waren ganz froh, mal ein paar Stunden für sich zu haben, auch wenn sie diese Zeit im Auto und auf dem Flughafen verbringen würden.
»Schau, da fährt der Papa mit Josef im Auto«, erzählte ich Michael, als wir vom Fenster aus dem Wagen nachblickten, den Josef vorsichtig aus der Ausfahrt lenkte. Ich hatte Papa gesagt, war das in Ordnung? Noch war Markus Michaels Onkel und würde dies Zeit seines Lebens auch bleiben. Sobald die Adoption bestätigt war, wäre er auch gleichzeitig sein Vater, wenn auch nicht sein leiblicher, ging mir durch den Kopf.
»Worüber grübelst du?«, fragte Bernd, der zu uns getreten war und Michael über die Wangen strich.
»Ob es richtig ist, wenn ich Papa zu Michael sage, wenn ich Markus meine«, antwortete ich.
»Was willst du sonst sagen, Onkel?«, Bernd legte den Arm um mich. »Mach dir nicht so viele Gedanken. Egal was du sagst. Wichtig ist, dass Michael spürt, dass er geliebt wird, und ich glaube, das spürt er.«
Ich kannte ja bislang Eli und Joshua nur von Fotos, auf denen sie sehr attraktiv wirkten, umso mehr war ich davon angetan, dass sie auch noch äußerst charmant und geistreich waren. Wir verstanden uns vom ersten Augenblick an.
Die beiden schienen genauso vernarrt in Michael zu sein, wie auch der Rest der Familie. Michael, der anfangs gefremdelt hatte, zerrte an ihren schwarzen Bärten, was bei Eli und Josh nur ein Lachen hervorbrachte, wobei ich mir vorstellen konnte, dass es manchmal auch weh tat, wenn er mit seinen kleinen Händen, nicht gerade sanft an den Gesichtshaaren riss. Warum konnte der Rest des Weizmann Clans nicht auch so sein, fragte ich mich. Elis Eltern sind doch genauso Michaels Großeltern, wie Bernd und ich es auch sind. Es sollte doch, ein knappes Jahr nach der Tragödie, endlich möglich sein, miteinander zu reden, allein schon Michaels wegen.
»Ich hoffe, ihr habt kein Problem mit meinem Essen , wandte ich mich an Eli und Josh. »Das nichts vom Schwein dabei ist, davon könnt ihr ausgehen. Allerdings verstehe ich absolut nichts von koscherer Küche und koche so, wie ich es gewohnt bin.«
»Irene, mache dir bitte weder Gedanken darüber noch irgendwelche Umstände. Wenn wir bei unserem Familien sind, dann essen wir natürlich koscher. Bei Freunden oder wenn wir auf Reisen außerhalb Israels sind, essen wir, was auf den Tisch kommt. Wir sind da nicht pingelig«, beruhigte mich Josh, der darum gebeten hatte, dass wir ihn so, wie alle seine Freunde, mit der Kurzform seines Namens ansprechen sollten.
Nun war ich doch etwas beruhigter. Ich hatte, nachdem klar war, dass sie Weihnachten und Silvester bei uns sein würden, sowohl Markus als auch Josef danach gefragt, ob sie wüssten, wie streng sich Josh und Eli an die Essensgebräuche hielten, was beide verneint hatten.
Zum Abendessen hatte ich Endiviensalat gemacht, dazu gab es Lammmedaillons mit einer Pfeffersoße und Kartoffelpüree. Als wir zu Tisch saßen und ich, nicht ohne Stolz, die glücklichen Gesichter aller Männer am Tisch sah, denen es offensichtlich sehr schmeckte, wagte ich Josh zu fragen, ob dieses Esse denn nun koscher sei oder nicht.
»Lamm ist koscher und Kartoffelpüree ebenfalls. Aber der gleichzeitige Genuss ist nicht koscher«, klärte Eli mich an Joshs Stelle auf, da dieser sich gerade eine weitere Gabel Kartoffelpüree einverleibt hatte.
»Nun verstehe ich gar nichts mehr«, seufzte ich.
»Das ist für einen Nichtjuden auch schwer nachvollziehbar«, klärte Eli mich weiter auf. »Fleisch- und Milchspeisen zur gleichen Zeit und vom selben Geschirr zu essen, ist für aschkenasische Juden undenkbar.« Warum dem so ist, darüber klärte Josh uns auf, der, wie auch Eli, aus einem aschkenasischem Elternhaus stammt. Mein Gott, wie kompliziert, dachte ich mir, nachdem ich noch mehr erfahren hatte. Welch ein Aufwand da betrieben wurde, nur weil das so in der Tora stand. Das war ja in etwa so, als wollte ich nach der Bibel kochen, wobei ich zugeben muss, dass ich nicht weiß, ob darin irgendetwas über Essenzubereitung steht.
Den vierten Advent verbrachten Bernd und ich, Michael hütend zuhause. Markus und Josef waren nach dem Frühstück mit Eli und Josh nach Frankfurt gefahren, wo an allen vier Advent-Sonntagen die historische Eisenbahn entlang des Mains fuhr, eine Attraktion, die sie den Israelis unbedingt zeigen wollten. Vorher wollten sie noch über den Weihnachtsmarkt am Römer bummeln. Auf dem Nachhauseweg gedachten sie, dem Mainzer Markt einen Besuch abzustatten, wo ab fünfzehn Uhr Chöre aus umliegenden Gemeinden, bei der lebensgroßen Krippe nahe des Doms, Weihnachtslieder sangen.
Während Bernd sich am Nachmittag um Michael kümmerte, mit ihm spielte und von Weihnachten erzählte, verpackte ich letzte Geschenke, bevor ich unser Abendessen vorbereitete. Scharfes Hühnchen Curry mit Reis hatte ich vorgesehen und machte mir keine Gedanken mehr darüber ob es koscher war oder nicht.
Als wir beim Abendessen saßen, kam das Gespräch auf Bräuche und Riten. So erzählte Bernd, wie er als Kind am Nikolausabend immer ganz bang darauf wartete, dass der Nikolaus erschien, der ihn abfragte, ob er denn brav gewesen sei, und somit etwas aus dem großen Sack bekäme, den dieser mit sich führte, oder ob er aber unartig war und die Rute Knecht Rupprechts verdient hätte, seinem finsteren Gesellen, der Bernd schon allein bei dessen Anblick das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Elis Frage, warum man den Kindern mit dieser Figur Angst einjage, konnte keiner von uns beantworten. Vermutlich war es einfach, seit Jahrhunderten übernommenes Brauchtum, dass sich als Erziehungsmethode bewährt hatte.
»Eigentlich passt diese Sitte nicht zur Person Nikolaus‘, der ja zu den Top Ten der zahlreichen Heiligen der Ost- und der lateinischen Kirche zählt«, bemerkte Bernd, und erzählte dann, dass Nikolaus, übereinstimmenden Überlieferungen nach, zwischen 270 und 276 in Patara, einer Stadt in Lykien geboren wurde.
»Mit neunzehn Jahren wurde er von seinem Onkel, der ebenfalls Nikolaus hieß, und Bischof von Myra war, zum Priester geweiht und zum Abt des Klosters Sion, in der Nähe von Myra, dem  heutigen Demre ernannt. Demre ist ein Ort an der Südküste der Türkei, in der zu damaliger Zeit Griechisch gesprochen wurde. Sein ererbtes Vermögen verteilte er unter die Armen. Um den Heiligen ranken sich zahlreiche Legenden, unter anderem die, der Mitgiftspende, in der ein verarmter Mann beabsichtigt, seine drei Töchter zu Prostituierten zu machen, weil er sie nicht standesgemäß verheiraten kann. Nikolaus hört davon und wirft an drei darauffolgenden Abenden jeweils einen Goldklumpen durch das Fenster der Jungfrauen. Am dritten Abend entdeckt der Vater Nikolaus, dankt ihm und fragt nach seinem Namen. Deswegen wird Nikolaus in der Malerei häufig mit drei goldenen Kugeln oder drei roten Äpfeln als ikonografischem Heiligenattribut dargestellt«, beendete Bernd seinen kleinen Vortrag und erntete Beifall.
»Wow, du weißt ja gut Bescheid«, sagte Josh. »Kann ich davon ausgehen, dass du praktizierender Christ bist?«, wollte Eli von Bernd wissen. Ich war gespannt, was er darauf antworten würde.
»Ich bin agnostischer Atheist. Unser Wertesystem gründet aber, wie in vielen anderen Staaten auch, auf den zehn Geboten. Ich bin bemüht, mich an diese zu halten. Zwar bin ich getauft und auch christlich erzogen, aber mir fehlt der Glaube an die Existenz eines höheren Wesens«, beantwortete Bernd, Elis Frage.
»Wie ist es eigentlich mit euch, wie haltet ihr es mit dem Glauben?«, mischte Josef sich in das Gespräch ein, und blickte dabei zunächst Eli, der ihm gegenüber saß, und danach Josh an, der links von ihm saß. »Ihr stammt doch beide aus einem ultraorthodoxen Elternhaus, wenn ich das richtig verstanden habe«, fügte er noch hinzu.
»Ja, wie halten wir es? Gute Frage!« Eli war es, der dies sagte und seinem Partner in die Augen blickte.
»Wir gehen an Feiertagen, wenn wir bei unseren Familien sind, schon mal in die Synagoge, aber das war es auch schon«, beantwortete Josh, Josefs Frage.
»Schabbat halten wir keinen, aber das Lichterfest begehen wir«, schaltete sich Eli nun in das Gespräch mit ein, »sogar die traditionellen Segen sprechen wir an Chanukka.«
»Chanukka und Lichterfest, ist das nicht ein und dasselbe?«, wollte Bern wissen.
»Chanukka ist die hebräische Bezeichnung für Lichterfest. Und der achtarmige, manch Mal auch neunarmige Leuchter nennt sich Chanukkia«, erklärte Eli. Dann erzählte er, dass am fünfundzwanzigsten Kislev, was im jüdischen Kalender unseren Monaten November und Dezember entspricht, zum Gedenken an die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem, nach dem erfolgreichen Makkabäer Aufstand der Juden Judäas, gegen hellenisierte Juden und makedonische Seleukiden, das achttägige Lichterfest gefeiert wird.
»Das ist so im Ersten Buch der Makkabäer bei Flavius Josephus und im Talmud überliefert«, ergänzte Josh, Elis Erklärung, um dann fortzufahren:
»Sie führten den traditionellen Tempeldienst wieder ein, nachdem sie die Zeus Statue zerstört hatten, die von hellenistischen Juden errichtet worden war, die Jahwe mit Zeus gleichstellten und auf hellenistische Art verehrt hatten.«
»Die Menora, der siebenarmige Leuchter, im Tempel sollte niemals ausgehen. Aufgrund der Kämpfe gab es aber nur noch einen Krug Öl, was gerade mal für einen Tag reichte. Für die Herstellung neuen Öls braucht man aber acht Tage. Wie durch ein Wunder brannte der Leuchter volle acht Tage«,
klärte Josh uns auf.
»Alle Achtung, ihr kennt euch gut mit eurer religiösen Geschichte aus«, sagte ich, worin mir Markus, Bernd und auch Josef zustimmten.
»Bei uns sieht man in der Weihnachtszeit viele siebenarmige Leuchter in den Fenstern stehen, was besonders abends schön ausschaut, wenn sie beleuchtet sind.
»Das sind Menoren, was du da siehst«, klärte Eli mich auf. »Eine Chanukkia muss mindestens acht Arme haben, da jeden Tag ein neues Licht entzündet wird, bis am achten Tag, alle Lichter brennen.«
»Sagtest du nicht etwas von neunarmigen Leuchtern? Wozu der neunte Arm, wenn nur acht Lichter brennen sollen?«, wollte ich von Eli wissen.
»Die Kerzen oder Öllampen, was immer man auch benutzt, werden nicht einfach mit einem Feuerzeug entzündet. Das neunte Licht, der Schamasch, also der Diener, dient einzig dazu, die acht Lichter der Chanukkia anzuzünden. Bevor man das macht, müssen aber die Segen gesprochen werden. Und es ist wichtig, dass zuvor das Abendgebet gesprochen wurde, und die ersten Sterne am Himmel funkeln, sprich, dass es halt dunkel ist«, antwortete Josh, an Elis statt.
»Ich möchte wetten, dass ihr die Segenssprüche auswendig kennt«, ließ sich Markus vernehmen.
Das hätte er vielleicht nicht sagen sollen, denn nun wurden wir Zeuge, wie glaubensfest die beiden Israelis sind. Josh begann hebräisch zu rezitieren und Eli übersetzte ins Englische:

Baruch atah Adonaj, Elohejnu Melech HaOlam, ascher kideschanu bemitzwotaw we’tziwanu lehadlik ner schel’chanukkah.
Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt durch deine Gebote und uns geboten, das Chanukkahlicht anzuzünden.

Baruch atah Adonaj, Elohejnu Melech HaOlam, sche’asah nissim La’wotejnu bajamim hahem basman haseh.
Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Du Wunder erwiesen unseren Vorfahren in jenen Tagen zu dieser Zeit.

Baruch atah Adonaj, Elohejnu Melech HaOlam, schehechijanu, wekijemanu wehigianu la’seman haseh.
Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Du uns hast Leben und Erhaltung gegeben und uns hast diese Zeit erreichen lassen.

Mir rieselte es eiskalt über den Rücken, an meinen Armen stellten sich die Härchen auf, so wunderschön hatte Josh diese Segenssprüche mit seiner melodischen Baritonstimme intoniert, und Elis Bass die Übersetzung vorgetragen.
Wir applaudierten und mitten im Jubel, quäkte das Baby-Fone, und wir hörten Michael brabbeln, der recht munter zu sein schien. Ungewöhnlich, denn eigentlich schlief er durch.
Da es schon sehr spät war, zogen wir uns alle in unsere Schlafzimmer zurück.

In der Nacht hatte es weiter geschneit und am morgen waren die Straßen weiß. Da hieß es, im Schritttempo ins Dorf runter zu fahren, um beim Bäcker die bestellten Baguettes abzuholen und Brötchen fürs Frühstück mitzubringen. Josef übernahm diese Aufgabe, wofür ich ihm dankbar war, hatte ich doch dadurch etwas mehr Zeit, um mich ums Frühstück zu kümmern.
Nach dem Frühstück, bei dem sich Markus erkundigt hatte, ob die Schlitten aus ihrer Kinderzeit noch existierten, und dankbar war, dass Bernd darauf bestanden hatte, sie für kommende Enkel aufzubewahren, machten sich die Jungs auf, um sich auf einem nahegelegenen Acker, der schon seit Ewigkeiten den Kindern des Dorfes als Rodelpiste diente, dem weißen Vergnügen hinzugeben. Michael nahmen sie natürlich mit, er erlebte an seinem Geburtstag seine erste Schlittenfahrt.
Ihm hatten wir ein Ständchen gesungen und dann zusammen mit ihm seine Geburtstagsgeschenke ausgepackt. Eli und Josh hatten ihm einen Teddybären geschenkt, und vom Rest der Familie bekam er altersgerechtes Spielzeug.

Am Spätnachmittag, als die Dämmerung fast schon dem Dunkel der Nacht wich, war es Zeit für die Bescherung. Unser Wohnzimmer wurde nur von der Lichterkette des Weihnachtsbaums beleuchtet, als ich mit dem Glöckchen läutete, was für alle anderen bedeutete, dass sie nun hereinkommen durften.
Dieses Leuchten in Michaels Augen, das schönste Weihnachtsgeschenk überhaupt. Nicht, dass ich mich nicht über die anderen Geschenke gefreut hätte. Von Markus und Josef bekam ich einen Gutschein für eine Behandlung in einem Kosmetikstudio, und Bernd hatte für den passenden Rahmen, ein Wellnesshotel in Südtirol gesorgt. Von Eli und Josh erhielten wir, eine wunderschön gearbeitete, silberne Chanukkia, ein Geschenk, dass wir nicht annehmen wollten, weil es uns viel zu wertvoll erschien. Andererseits wollten wir die beiden auch nicht brüskieren, und so bedankten wir uns.
Der Nähmaschinentisch wurde stürmisch bejubelt und auch Josh und Eli freuten sich über die Miniaturbücher aus dem Gutenbergschen Museum.
Die größte Überraschung sollten wir aber erst im Lauf des Abends erleben, als wir beim Raclette saßen, und Michael auf Markus Schoß sitzend, sein erstes Wort sagte: »Osef.«
»Was hast du gesagt, sags nochmal, bitte?«, Josef kullerten Tränen aus den Augen. Und da erklang es wieder: »Osef.«
»Das ist nun der Dank für all meine Mühe«, grummelte Markus, was allgemeines Gelächter auslöste.

Kapitel 16 – Markus

Wir waren wieder einmal auf dem Weg zu meinen Eltern ins Rheinland, Ostern stand vor der Tür, und entsprechend voll war die Autobahn. Es hatte sich seit Weihnachten einiges getan.
Die Umbauten an unserem Haus in Deining waren  abgeschlossen und das Haus bereits neu getüncht. Wir gingen davon aus, dass wir Mitte des nächsten Monats mit den Renovierungsarbeiten im Inneren beginnen konnten. Da wir am Äußeren nicht viel verändern konnten, ohne den Denkmalschutz auf den Plan zu rufen, hatten wir uns damit begnügt, Fenster und Fensterläden zu erneuern und eine neue Haustür einzubauen, die der Ursprünglichen glich, aber aus Kunststoff war. Gleiches galt für die Fenster. Nur die Fensterläden hatten wir wieder in einer Holzausführung gewählt, die sie authentischer wirken ließen als Kunststoffläden es getan hätten.
Die Wand zwischen der Küche und der dahinter liegenden Stube hatten wir, soweit es möglich war herausgenommen und dadurch eine geräumige Wohnküche erhalten. Die beiden Räume auf der anderen Seite des Flurs, früher vermutlich als Wohn- und Schlafzimmer genutzt, hatten wir ebenfalls in einen Raum verwandelt, wovon eine Ecke später als Büro genutzt werden sollte. Das alte Badezimmer im Erdgeschoss hatten wir komplett herausgerissen, und an seiner Stelle gab es nun eine Gästetoilette.
Dafür waren die vier Zimmer in der oberen Etage so umgebaut worden, dass es je ein größeres Zimmer für Michael sowie für Josef und mich gab und ein etwas kleineres, das als Gästezimmer dienen sollte. Aus dem, durch die Umbauten etwas geschrumpften, vierten Zimmer, würde unser zukünftiges Badezimmer werden.
Seit dem ersten Januar war ich nun offiziell bei Josef als Halbtagskraft angestellt und hatte mich recht schnell in die von ihm genutzten Programme eingearbeitet. Wahnsinnig viel war nicht zu tun, so lange ich die Dinge zeitnah erledigte, was nicht immer machbar war, da ich ja auch noch mit dem Buchprojekt über das indische Eisenbahnwesen beschäftigt war. Ich versuchte, den Spagat zwischen Pflicht und Kür hinzubekommen. Noch war Josefs Buchführung Pflichtprogramm und mein Buch das Freizeitvergnügen. Sollte es mir wirklich gelingen, das Buch zu veröffentlichen, und so viele Exemplare davon zu verkaufen, dass man von rentabel sprechen konnte, dann würde das anders aussehen, aber bis dahin war sicher noch ein weiter Weg, da machte ich mir nichts vor.
Michael war jetzt in einer Entwicklungsphase, wo er ständig etwas Neues lernte. Klappte mal etwas nicht so, wie er das wollte, dann wurde er schnell zornig. Sein Sprachschatz entwickelte sich ständig. Das hatte nicht nur angenehme Seiten. Nachdem ich an Weihnachten ja etwas enttäuscht darüber gewesen war, weil sein erstes Wort ‚Osef‘ war, so kämpfte ich jetzt damit ihm abzugewöhnen mich Hase zu rufen. Josef fand es lustig, wenn Michael auf mich deutete und dabei ‚Hase‘ sagte, bemühte sich aber, zugegebener Maßen, dem Kleinen beizubringen, mich ‚Papa‘ zu rufen. Viel Erfolg war ihm bislang damit nicht beschieden. Problematisch wurde es, als wir beim Spaziergang einen Feldhasen sahen und Josef unbedacht Michael darauf aufmerksam machte, indem er Hase sagte. Michael, der es gewohnt war, dass alles so hieß, wie wir es ihm beibrachten, sah Josef mit großen Augen an, deutete dann auf mich und sagte ‚Hase‘. Dann fing er an zu weinen.
Momentan saß er quietschvergnügt in seinem Kindersitz im Fond und erzählte seinem Bären etwas. Michael konnte sich sehr gut mit sich selbst beschäftigen und musste nicht andauernd bespaßt werden, was mir zugutekam, da ich dadurch mehr Zeit hatte, mich um meine Arbeit zu kümmern.
Während wir nahezu im Schritttempo den Aichelberg hinabrollten, unterhielten wir uns über die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten.
»Da wird es nie Ruhe geben«, sagte Josef, »solange es kein Zweistaatensystem gibt. Die Israelis sind nicht gerade zimperlich im Umgang mit den Palästinensern.«
»Was sollen sie denn deiner Meinung nach machen, um sich gegen die ständigen Attentate zur Wehr zu setzen?«, wollte ich von Josef wissen. »Du brauchst doch nur mal an die letzten drei Monate zu denken. Fast kein Tag, an dem man nicht von irgendwelchen palästinensischen Selbstmordattentaten gehört hat. Die sind keinen Deut besser.«
»Schade nur, dass durch diese ganze Scheiße Eli und Josh nicht kommen konnten wie sie es vorhatten«, Josef trommelte mit seinen Fingern auf dem Lenkrad, ein sicheres Zeichen, dass er von der Kriecherei genervt war.
»So ganz verstanden, was die Attentate damit zu tun haben, dass sie ihre Reisepläne canceln mussten, habe ich nicht«, sagte ich, mich dabei zum Rücksitz umdrehend, wo es verdächtig ruhig geworden war.
»Schläft«, sagte Josef, nach einem Blick in den Rückspiegel, um dann nahtlos meine Bemerkung von eben zu kommentieren: »ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich glaube, dass Josh bei einem der Geheimdienste arbeitet. Wer weiß, was die als Vergeltung für die vielen Anschläge austüfteln.« Damit konnte er natürlich recht haben.
Bereits einen Tag später, am Karsamstag, berichteten die Medien darüber, dass die israelischen Streitkräfte bei einer Offensive gegen die Stadt Ramallah, den Hauptsitz des Präsidenten der Autonomiebehörde, Jassir Arafat, besetzt hatten. Gleichzeitig hatte die israelische Regierung eine Teilmobilisierung veranlasst. Am Ostersonntag berichtete Associated Press, dass in den vergangenen achtzehn Monaten 1.262 Palästinenser und 401 Israelis bei den Konflikten ums Leben gekommen waren.
Es war wieder einmal sehr spät, als Josef den Wagen in die Einfahrt zu meinem Elternhaus steuerte.
Nachdem wir Michael zu Bett gebracht hatten, saßen wir mit meinen Eltern beim Abendbrot, wo sich die Gespräche sehr schnell nochmal um das vergangene Weihnachtsfest und auch um Israel drehten.
Nachdem wir ja einen wunderschönen Heiligabend verbracht hatten, ging es mir in den danach folgenden Tagen seelisch sehr schlecht. Es begann bereits in der Nacht zum Fünfundzwanzigsten, in der ich von Alpträumen geplagt wurde, aus denen ich immer wieder schweißgebadet erwachte, nur um kurze Zeit später scheinbar nahtlos die Fortsetzung zu träumen: Ich war wieder in Bethlehem, stand an Katharinas Bett, sah die vielen Schläuche, mit denen sie am Leben gehalten wurde…., …. Jagten mich junge ultraorthodoxe Juden, in ihrer typischen Tracht, mit den langen Schäferlocken, die unter ihren Hüten hervorlugten, den schwarzen Mänteln, die sie über ihren ebenfalls schwarzen Anzügen trugen…., … tötet ihn, tötet ihn, er hat seine Schwester umgebracht, die eine von uns gewesen ist, Adonai, Adonai… Mir gingen diese Träume den ganzen ersten Weihnachtstag über nicht aus dem Sinn, dazu hatte sich eine grenzenlose Traurigkeit eingestellt, kurzum, ich war alles andere als kommunikationsfreudig, und das, wo wir doch Eli und Josh zu Besuch hatten.
Aber auch den beiden ging es nicht gut, betrauerten sie doch ebenfalls Elis Bruder Moshe und genauso Katharina, mit der sie sich gut verstanden hatten. Meinen Eltern ging es auch nicht viel besser, wenngleich sie, genau wie Josef, versuchten, die Stimmung nicht zur Gänze in die Trostlosigkeit abgleiten zu lassen, allein schon Michaels wegen, der ja nicht verstehen konnte, warum wir so deprimiert waren.
Entsprechend ruhig hatten wir auch die weiteren Tage inklusive Silvester verbracht. Eli hatte erzählt, dass sich die gesamte Weizmann Familie an Moshes Todestag an dessen Grab auf dem Har HaMenuchot Cemetry versammelt, und die Männer das Kaddish gesprochen hatten. Er hatte Fotos dabei, auf denen wir zum ersten Mal die Gräber von Moshe und Katharina sahen. Da wir die hebräischen Inschriften natürlich nicht lesen konnten, übersetzte Josh, was dort geschrieben stand.
Auf Moshes Grabstein war die Inschrift: Hier ist geborgen Moshe Weizmann 1969 – 2000, und darunter weitere fünf Buchstaben eingemeißelt, die abgekürzt den Vers „Möge seine Seele eingebunden sein in den Bund des Lebens“ aus dem Buch Samuel bedeuten. Katharinas Grabstein unterschied sich lediglich durch das Geburtsjahr und die weibliche Sprachform.
»Was haben die Steine auf den Gräbern zu bedeuten?«, hatte Josef gefragt, und von Eli die Erklärung erhalten, dass das auf das Urjudentum zurückzuführen sei. Anstelle von Blumen lege man beim Besuch der Gräber kleine Steine dort ab, da früher die Gräber häufig mit großen schweren Steinen versiegelt wurden, zum Beispiel in der Wüste, um die Toten vor wilden Tieren zu schützen, und damit die Totenruhe zu gewährleisten.
Des Weiteren erfuhren wir, dass jüdische Gräber nicht eingeebnet, und dass die Toten nicht verbrannt werden dürfen.

»Ich möchte dieses Jahr unbedingt mit deinem Vater nach Israel fliegen«, sagte meine Mutter zu mir, als ich  die Reste unseres Abendessens in den Kühlschrank räumte, während sie damit beschäftigt war, die Spülmaschine zu beladen.
»Meinst du nicht, dass das zu gefährlich ist?«, gab ich zu bedenken. Wobei mir schmerzlich bewusst wurde, dass ich so lange nicht nach Israel würde reisen können, bis der Weizmann Clan Ruhe gab und die Ermittlungen um Katharinas Tod eingestellt waren.
Von Eli wussten wir, dass der alte Weizmann immer noch seine Verbindungen spielen ließ, damit der Fall nicht zu den Akten gelegt wurde. Allerdings war er wohl nicht mehr so fanatisch wie noch im letzten Jahr, was vielleicht auch damit zusammenhing, dass geschäftliche Belange seine ganze Aufmerksamkeit erforderten.
»Wann ist es im Nahen Osten nicht gefährlich«, beantwortete meine Mutter meine Frage. »Wenn wir darauf warten wollen, dann können wir nie Katharinas Grab besuchen«. Dass sie nicht nur das Grab besuchen wollte, sondern sich darüber hinaus auch mit Judith Weizmann treffen wollte, erzählte sie uns am Ostersonntag, als wir beim Mittagessen saßen und das Thema nochmal auf den Tisch kam.
»Was willst du?«, fragte mein Vater, der davon offenbar auch zum ersten Mal hörte.
»Mich mit Judith treffen, was ist daran so verwunderlich?«, beantwortete meine Mutter die Frage. Dabei blickte sie uns herausfordernd an.
»Und du glaubst, du brauchst da nur anzurufen, zu sagen, dass wir im Land sind und kannst dann am nächsten Tag schnurstracks bei den Weizmanns einlaufen?«, dem ironischen Ton meines Vaters konnte man entnehmen, dass er den Gedanken für eine Schnapsidee hielt.
Meine Mutter antwortete darauf nicht, stand auf, trat an das Sideboard und entnahm der obersten Schublade einen Brief, den sie meinem Vater kommentarlos in die Hand drückte. Ich erkannte Elis Handschrift und war nicht der einzige Neugierige, der wissen wollte, was in dem Brief stand.
Der Umschlag enthielt nicht nur einen zweiseitigen Brief Elis, sondern auch noch einen weiteren Umschlag mit einem in Hebräisch handgeschriebenen weiteren Schreiben.
„Liebe Irene…“, begann mein Vater vorzulesen.
„… habe ich mich sehr über die Fotos und ihren Brief gefreut. Ich stimme Ihnen zu, dass es an der Zeit ist, alte Wunden zu heilen…“, mein Vater ließ das Blatt sinken.
»Du hast Kontakt zu Elis Mutter aufgenommen?«, verwundert blickte er meine Mutter an.
»Ich dachte mir, von Mutter zu Mutter ist es leichter, schließlich haben wir beide ein Kind verloren…“.
Wie sie uns später erzählte, hatte sie schon vor Weihnachten mit dem Gedanken gespielt, Kontakt zu Elis Mutter aufzunehmen. Aufgrund meiner Alpträume an Weihnachten, von denen ich ihr in einer ruhigen Minute erzählt hatte, hatte sie Eli gefragt, ob er einen Brief, den sie seiner Mutter schreiben wollte, übersetzen und weiterleiten würde. Wir sollten davon erst einmal nichts erfahren. Erst wenn Elis Mutter auf ihren Brief antworten würde, hatte sie beschlossen, würde sie uns davon erzählen.
»Das ist meine Osterüberraschung«, sagte meine Mutter, nachdem sie wieder Platz genommen hatte.
»Die dir mehr als gelungen ist«, bemerkte Josef und auch ich stimmte kopfnickend zu.
»Und wann wollt ihr nun fliegen«?, wollte ich wissen. Mein Vater zuckte mit den Schultern. Da er genauso überrascht war wie wir, war er in die Reisepläne meiner Mutter nicht eingeweiht.
»Ich dachte zwischen Himmelfahrt und Pfingsten«, antwortete meine Mutter, »das hängt allerdings auch davon ab, ob Eli und Josh dann Zeit haben. Sie haben angeboten, dass wir bei ihnen wohnen können und würden auch mit uns nach Jerusalem fahren«.
Da hatte meine Mutter mal wieder Nägel mit Köpfen gemacht, wie Josef am nächsten Tag so treffend sagte, als wir uns auf der Rückfahrt befanden.

Kapitel 17 – Bernd

Die ständigen Terrorangriffe in Israel waren der Grund, warum wir den von Irene geplanten Besuch auf unbekannte Zeit verschoben. Anfang letzten Monats hatte es im Nordbezirk einen Selbstmordanschlag des Islamischen Dschihad auf einen Linienbus gegeben, bei dem siebzehn Menschen den Tod fanden und am achtzehnten Juni einen Anschlag in Jerusalem mit neunzehn Toten.
In Elis Brief, der heute gekommen war, hatte er uns beschworen, die Reise nicht zu machen, es sei einfach viel zu gefährlich. Er machte uns den Vorschlag, stattdessen nach Zypern zu reisen. Er würde seine Mutter zu einem Kurzurlaub dorthin einladen. Es sei so viel einfacher, eine Familienzusammenführung anzubahnen, vor allem, da sein Vater nichts von der Sache wissen sollte. Darum hatte seine Mutter ihn gebeten, weil sie wusste, dass ihr Mann noch weit davon entfernt war, einem Treffen zuzustimmen und es ihr auch verbieten würde.
Ein heimliches Treffen in Jerusalem sei nahezu unmöglich, hatte er weiter geschrieben, da die Familie zu sehr bekannt sei, und sie garantiert von irgendwem gesehen würden, was unangenehme Fragen nach sich ziehen könnte.
»Wenn wir nach Zypern, statt nach Israel fliegen, dann könnten uns die drei Deininger doch begleiten«, sagte Irene, nachdem sie den Brief zur Seite gelegt hatte.
»Zumindest Markus und Michael«, antwortete ich, »bei Josef bin ich mir nicht sicher, ob er weg kann. Als ich gestern mit ihm telefoniert habe, hatte er gestöhnt, dass er sich vor Aufträgen kaum retten kann.« Ich hatte das kaum gesagt, als Irene auch schon den Telefonhörer in der Hand hielt. Markus meldete sich wohl unmittelbar nach dem ersten Klingelton, so kam es mir jedenfalls vor. Er war nicht sehr begeistert von unserer Idee, schob zu viel Arbeit vor, und dass er Josef nicht allein lassen könnte, jetzt, wo sie mitten in der Umbauphase steckten.
»Von jetzt ist auch nicht die Rede…«, hörte ich Irene sagen, »… dachte an Mitte September, dann sind die Temperaturen auch nicht mehr so hoch, und bis dahin dürftet ihr doch wohl soweit sein…«
Das Telefonat dauerte noch eine ganze Weile, Irene erkundigte sich natürlich auch nach Michael, und vor allem war sie daran interessiert zu erfahren, ob es etwas Neues bezüglich der Adoption gab.
Das Adoptionsverfahren zog sich, für unsere Begriffe, unwahrscheinlich in die Länge. Wir befürchteten, ohne dass wir Josef und Markus etwas davon sagten, dass das Schreiben der Tante vom Jugendamt, Ursache für die Verzögerung war.

Josef war es, der Markus zuredete, uns, mit Michael zusammen, auf der Zypernreise zu begleiten. Er war, genau wie Irene, der Meinung, dass es nicht schaden konnte, wenn die Weizmann Oma ihren deutschen Enkel nicht nur von den Fotos, die Eli ihr regelmäßig zusteckte, kannte.
»Es ist doch etwas ganz anderes, wenn du den kleinen Fratz in den Armen hältst und abbusseln kannst«, hatte er Markus gegenüber argumentiert, der sich schließlich geschlagen gab und zustimmte.
So war ich Mitte Juli endlich in der Lage, in einem Bad Kreuznacher Reisebüro, die Flüge und ein Hotel zu buchen, nachdem Irene und ich tagelang Prospekte gewälzt hatten. Da wir etwas Ruhiges, in Meeresnähe gelegenes suchten, hatten wir uns schließlich, auf Anraten der netten Dame im Reisebüro, für eine, auf den Fotos nett aussehende, kleine Appartementanlage in Pissouri, einem kleinen Dorf an der Südküste, unweit des Aphrodite Felsens gelegen, entschieden.
»Sie können bequem zu Fuß von der Anlage zum Strand gehen, das dauert keine zehn Minuten«, hatte Frau Junghans, wie das Namensschild auf  ihrem Schreibtisch, die Dame auswies, gesagt. »Allerdings empfehle ich Ihnen, einen Leihwagen zu mieten, denn vom Flughafen bis dahin sind es gut einhundert Kilometer. Außerdem sind Sie dann viel beweglicher, sie wollen sich doch sicher die Sehenswürdigkeiten der Insel ansehen?«, hatte sie hinzugefügt. Das mit dem Leihwagen erschien mir logisch zu sein, allerdings erforderte dies eine Änderung unserer Pläne. Markus wollte mit Michael ab München fliegen und wir beide natürlich ab Frankfurt. Während der Flug ab München bereits am Vormittag startete, würde unser Flieger erst am frühen Nachmittag abheben. Das hieße, dass Markus auf dem Hinflug mit dem Kleinen bis zum Abend auf dem Flughafen festsitzen würde, um auf uns zu warten. Umgekehrt müssten wir, weit vor dem Abflug unserer Maschine in Larnaca sein, damit Markus und Michael ihren Flug nicht verpassten.
»Ich glaube, da muss ich nochmal mit meiner Familie beratschlagen, wie wir das mit den Flügen machen«, sagte ich, woraufhin Frau Junghans ihren Computer befragte und mir dann klar machte, dass wir keine Zeit verlieren durften, beide Flüge waren schon nahezu ausgebucht. Irene konnte ich nicht fragen, sie wartete auf mich im Quellenhof, und Markus, den ich vom Reisebüro aus anrief, ging nicht ans Telefon.
»Wir nehmen die Flüge ab Frankfurt, drei Erwachsene und ein Säugling«, entschied ich.
»Wie alt ist das Kind?«, wollte Frau Junghans wissen.
»Mein Enkel Michael wird am vierundzwanzigsten Dezember zwei Jahre alt«, beantwortete ich ihre Frage.
»Warum ist das wichtig?«, wollte ich von ihr wissen, um dann von ihr darüber aufgeklärt zu werden, dass Kinder bis zum Alter von zwei Jahren keinen eigenen Sitzplatz bekamen, und daher auch der Ticketpreis nur zehn Prozent des regulären Preises betrug.
Nachdem ich einen Verrechnungsscheck für die Anzahlung ausgestellt hatte, verließ ich das Reisebüro und begab mich, so schnell ich konnte, zum Quellenhof. Wieder einmal brauchte ich in diesem nassen Sommer einen Schirm.
Markus, den ich am gleichen Tag abends über die Änderung informierte, war davon nicht gerade angetan, sah aber ein, dass es die praktikabelste Lösung war.
Irene und ich freuten uns auf die zwei Wochen Zypern, würden wir dort doch endlich wieder einmal die Gelegenheit haben, unseren Enkel, den wir seit Ostern nicht mehr gesehen hatten, ausgiebig zu verwöhnen.
Markus sandte uns regelmäßig Fotos von Michael und den Renovierungsarbeiten in ihrem neuen Domizil. Im Erdgeschoss waren die Arbeiten abgeschlossen und im ersten Stock waren das Kinderzimmer sowie das Schlafzimmer von Josef und Markus fertiggestellt. Das Badezimmer sah noch sehr nach Baustelle aus. Es war nur in der einen Ecke, im Bereich der Duschkabine, gefliest. Alles andere war im Rohzustand. Immerhin konnten sie duschen, dafür hatte der Installateur gesorgt. Für die Gesichts- und Zahnpflege nutzten sie die Gästetoilette im Erdgeschoss. Michael wurde in einer Plastikwanne gebadet, ein vorübergehender Zustand, der von der Betreuerin des Jugendamtes, kritisch beäugt wurde, als sie zu Beginn der letzten Woche unangekündigt vorbeischaute. Immerhin schien sie umgänglicher zu sein als ihre Vorgängerin. Als Markus sie fragte, ob sie wisse, wieweit sein Adoptionsantrag bearbeitet sei, erfuhr er, dass dieser mindestens so lange auf Eis liegen würde, bis die Umbauarbeiten abgeschlossen seien. Auch seine Lebensweise als Selbständiger mit ungeregeltem Einkommen, dazu unverheiratet  und offensichtlich in einer homosexuellen Beziehung lebend, trügen nicht gerade dazu bei, dass man an höherer Stelle der Adoption positiv gegenüber stünde.
Markus war sehr geknickt, als er mir das abends am Telefon berichtete.
»Wir wussten doch von Anfang an, dass es nicht einfach werden würde«, sagte ich, »aber du bist immerhin schon einen gewaltigen Schritt weitergekommen, dadurch, dass der Fall nun einer anderen Betreuerin übertragen wurde. Die junge Frau scheint doch auf deiner Seite zu stehen, sonst hätte sie nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass man an höherer Stelle die Bearbeitung verzögert.«
»Man könnte meinen, wir leben im finstersten Mittelalter«, echauffierte Markus sich, »nur weil wir schwul sind unterstellt man uns, nicht in der Lage zu sein, die Verantwortung für ein Kind übernehmen zu können.« Wenn es um seine sexuelle Orientierung ging, dann konnte Markus auf die Barrikaden gehen. Er forderte zu Recht, gleichbehandelt zu werden, wobei er sich, meiner Meinung nach, manchmal mit seiner Pingeligkeit selbst im Weg stand. Er fühlte sich mitunter diskriminiert, was bei genauer Betrachtung aber lediglich an der, in den Köpfen verankerten, und auf die eigene Erziehung zurückzuführende Moralvorstellung, vorzugsweise älterer Mitmenschen beruhte, die schon mal schräg blickten, wenn sie Josef und ihn, mit Michael in ihrer Mitte, Hand in Hand spazieren gehen sahen.
»Hast du der Dame denn nicht gesagt, dass du inzwischen finanziell durch deinen Halbtagsjob in Josefs Firma und den Mieteinnahmen des Hauses in Gau Algesheim, abgesichert bist?«, fragte ich und erfuhr, dass er wohl vergessen hatte, dem Jugendamt diese Information zukommen zu lassen. Nachdem ich ihm geraten hatte, Kopien der entsprechenden Unterlagen schnellstmöglich dem Jugendamt zu schicken, beendeten wir unser Telefonat.

Bereits Anfang August hatte es in den Alpen heftige Regenfälle gegeben, die zu Hochwasser in sämtlichen Flüssen führte. Das Tiefdruckgebiet Ilse hielt sich über mehrere Tage und führte zu einer Verlagerung in den Osten des Landes, wo es um den zwölften, dreizehnten August zu dramatischen Szenen kam. In Dresden war nicht nur die Semperoper sowie der Hauptbahnhof und der Landtag geflutet, auch in weiten Teilen der Innenstadt stand das Wasser in den Geschäften. Am fünfzehnten August wurde Meißen von der ersten Hochwasserwelle erfasst, wobei Teile der Porzellanmanufaktur zerstört wurden. Weite Gebiete Ostdeutschlands standen unter Wasser. Die Bundeswehr war, genauso wie das Technische Hilfswerk und die lokalen Feuerwehren, im Dauereinsatz. Menschen, die ihren Urlaub an Elbe und Oder verbrachten, wurden zu Helfern in der Not, andere reisten extra in den Osten, um vor Ort Hilfe zu leisten. Deutschland erlebte zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung eine unglaubliche Solidarität zwischen Ost und West. Die Schäden bezifferten sich schnell im Milliardenbereich. Allein die Semperoper benötigte siebenundzwanzig Millionen Euro für die nötigen Renovierungsarbeiten, die Staatliche Kunstsammlung, zu der auch die Gemäldegalerie zählt, weitere zwanzig Millionen. Der Dresdner Hauptbahnhof bezifferte den Schaden auf zweiundvierzig Millionen Euro.
Weit schlimmer jedoch, als die materiellen Schäden, war der Verlust von Menschenleben und der Tod der ungezählten Tiere.
Egal zu welcher Tageszeit man den Fernseher einschaltete,  wurde von neuen Katastrophen berichtet. Bundeskanzler Gerhard Schröder stapfte werbewirksam in Gummistiefeln durch Dresden, versprach schnelle Hilfe, ein Versprechen was ausnahmsweise auch gehalten wurde. Dies spiegelte sich in den Bundestagswahlen wider, die im September stattfanden und es Schröder ermöglichten, die rotgrüne Koalition fortzusetzten.

Als ich am vierzehnten September, auf dem Flug nach Larnaca, die Zeitung durchblätterte, beherrschte das Jahrhunderthochwasser noch immer die Schlagzeilen.

Kapitel 18 – Irene

Auf unser Gepäck hatten wir nicht lange warten müssen, und auch die Übernahme des Mietwagens ging rasch vonstatten. Der Linksverkehr war zunächst etwas ungewöhnlich, vor allem für Bernd als Beifahrer, der auf der falschen Seite saß, wie er es ausdrückte. Markus hatte ja schon etwas Erfahrung und steuerte den Wagen souverän durch die zahlreichen Kreisel auf der Küstenstraße.
Als wir in Pissouri ankamen war es bereits dunkel.
Die Anlage sah im Schein der Laternen malerisch aus, von der Terrasse des Restaurants wehte, von Musik untermalt, Stimmengewirr zu uns, als wir der Angestellten folgten, die uns zu unseren Appartements führte.
Bernd hatte zwei Appartements gebucht. Markus, der in zwei Tagen dreißig wurde, wunderte sich darüber, ahnte aber zum Glück nichts von der großen Überraschung, die ihn erwartete.
Nachdem wir uns häuslich eingerichtet und erfrischt hatten, genossen wir unser erstes zypriotisches Essen, begleitet von der Darbietung einer lokalen Folkloregruppe, die von den zumeist britischen Gästen frenetischen Applaus erhielt.
»Warum hast du nicht ein großes Appartement mit zwei Schlafzimmern gebucht«,?, wollte Markus beim Essen wissen. Bernd, der die Frage erwartet hatte, griff zu einer kleinen Notlüge und behauptete, dass keines frei gewesen sei, als er die Reise buchte. Bei dem Gewusel, auf der Terrasse und in dem großen Speisesaal, war dies eine plausible Erklärung, und Markus vertiefte das Thema dann auch nicht weiter.
»Hast du nochmal mit Eli telefoniert?«, fragte ich.
»Ja, vorgestern. Sie fliegen am Donnerstag. Nach Páfos. Dort hat er für seine Mutter und sich zwei Zimmer im Elysium Hotel gebucht. Er meldet sich, wenn sie da sind.« Etwas nervös war ich schon. Das musste ich mir eingestehen.
Michael schlief in unserem Appartement. Darum hatte ich Markus gebeten. Wir sahen unseren Enkel eh viel zu selten, und da wollten wir keine Minute missen. Markus hatte auch nur schwachen Widerstand geleistet. Er war sicherlich froh, auch einmal ausschlafen zu dürfen.
Den Sonntag verbrachten wir damit, uns zu akklimatisieren, gingen zum Strand und begutachteten den winzigen Ort, der fast nur aus einer Straße bestand. Ein winziger Dorfladen, ein Lokal, mehr gab es nicht. Das eigentliche Dorf klebte an dem Hügel, der das Tal im Nordwesten begrenzte.
Dorthin verschlug es uns abends. Steile Sträßchen, zwei kleine Läden, zwei Lokale mit Tischen und Stühlen davor, besetzt von Einheimischen. Wir waren wohl die einzigen Touristen, die hierhergefunden hatten. Die Verständigung war schwierig, die Wirtsleute sprachen kein Englisch und von uns keiner griechisch. Mit der Getränkebestellung ging es ja noch, aber wie sollten wir das Essen ordern? Der Wirt löste dieses Problem, indem er  uns, einen nach dem anderen, in die Küche lotste und dort auf die Töpfe und Pfannen deutete.
Das Essen war sehr lecker und dazu noch um einiges preiswerter als in unserer Appartementanlage.

Als ich am nächsten Morgen an Markus Tür klopfte, öffnete er nicht, und war auch nicht auf der Terrasse anzutreffen, wo es schon sehr lebhaft zuging. Als ich ihn auch nicht am Buffet antraf, wurde ich doch etwas nervös. Michael, auf den sich meine Nervosität wohl übertragen hatte, weinte schon eine ganze Weile.
»Weit kann er nicht sein«, beruhigte mich Bernd, der sich vor der Anlage umgesehen hatte. »Der Wagen steht da, wo er ihn gestern Abend geparkt hat. Er wird wahrscheinlich nur einen Spaziergang machen. Lass uns frühstücken, ich habe Hunger.« Michael hatte sich wieder beruhigt. Er beäugte die Katzen, die um die Tische herumschlichen, in der Hoffnung, gefüttert zu werden. Diesen Gefallen taten ihnen auch etliche Urlauber.
Während Bernd sich das englische Frühstück munden ließ, knabberte ich an zwei Scheiben Toast mit etwas Butter und Honig. Selbst Michael schien mehr zu essen als ich.
Die Zeiger der Uhr rückten auf die Zehn zu, die Terrasse leerte sich, die Liegen am Pool waren nahezu alle belegt und von Markus noch immer keine Spur.
»Bleib du mit Michael hier«, sagte ich zu Bernd. »Ich geh mal zum Strand, schau, ob er dort ist. Er wird ja wohl kaum ins Dorf hochgelaufen sein, so steil wie die Straße ist«. Meine Vermutung sollte sich bestätigen. Markus saß, mit vom Weinen verquollenen Augen, an einen Felsen gelehnt, in der östlichsten Ecke des nahezu menschenleeren Strandes. Noch immer quälte ihn sein Gewissen. Trotz der Therapie, zu der er in regelmäßigen Abständen ging, und bei der auch Fortschritte zu machen schien.
»Wenn ich wenigstens ihr Grab besuchen könnte«, schluchzte er, als ich ihn wie ein Kind in meinen Armen hielt. »Keine dreihundert Kilometer!«, er deutete mit der linken Hand in Richtung des Felsens, der die Sicht gen Osten behinderte.
»Irgendwann wirst du ihr Grab besuchen können. Katharina ist dort, wo sie sein soll. In unseren Herzen«, versuchte ich meinen dreißigjährigen Sohn zu trösten. Wir saßen noch eine ganze Weile, jeder seinen Gedanken nachhängend.
Ich erinnerte mich an ihre Geburt. Eigentlich sollten unsere Zwillinge erst gute vierzehn Tage später zur Welt kommen, das hatte zumindest mein Frauenarzt so ausgerechnet. Wir wohnten damals noch in Kempten, einem Vorort von Bingen, in einer kleinen Wohnung im zweiten Stock, direkt an der verkehrsreichen Straße und der nicht minder befahrenen Bahnstrecke gelegen, aber mit Blick auf den Rhein, wie wir uns das schönredeten. Den Fluss konnte man bestenfalls im Winter sehen, wenn die Bäume entlaubt waren.
Wir saßen an diesem Samstagmorgen gerade beim Frühstück, als ein schmerzhaftes Ziehen die erste Wehe ankündigte. War ich damals panisch gewesen? Ich wusste es nicht mehr. Auf jeden Fall war der Koffer noch nicht gepackt und Bernd wuselte durch die kleine Wohnung, um das Notdürftigste einzupacken. Die nächste Wehe, das weiß ich noch, ließ lange auf sich warten. Erst am frühen Nachmittag, da waren wir schon lange in Mainz,  im St. Elisabethen Krankenhaus, wurden die Abstände immer kürzer, und um sechzehnuhrzehn wurde Katharina als erste entbunden, Markus folgte seiner Schwester wenige Minuten später auf die Welt.
Als wir endlich wieder im Hylatio Village ankamen, diesen Namen hatten die Besitzer ihrer schönen Appartementanlage gegeben, warteten Bernd und Michael schon sehnsüchtig auf uns.
»Hase«, sagte Michael und wollte auf Markus Arm genommen werden. Nun war es an Markus, sich um Michael zu kümmern. Bernd und ich hatten Konspiratives zu erledigen und suchten dazu das Gespräch mit dem Patrone. Nachdem dies erledigt war, drängte Bernd dazu, am Nachmittag einen Ausflug zu machen. Er wollte unbedingt den Aphrodite Felsen sehen, von dem die Legende sagt, dass Liebespaare, die in Vollmondnächten dreimal um den Felsen schwimmen, die ewige Liebe finden werden.
Laut meinem Reiseführer soll es in sommerlichen Vollmondnächten dort stärkeren Andrang geben, als an Novembertagen in unsrem städtischen Hallenbad.
Damit sie nicht zu früh zurückkommen würden, hatte Bernd noch den Besuch des Aphrodite Tempels in Kouklia eingeplant. Sollten sie dann immer noch zu viel Zeit haben, stand der Besuch der Aphrodite Quelle in Latschi, auf Bernds Plan. Um einen Grund zu haben, nicht mitfahren zu müssen, schob ich leichtes Unwohlsein vor und legte den dreien ans Herz, sich einen reinen Männertag zu machen. Bernd moserte zum Schein etwas herum. Michael bekam noch eine Zwischenmahlzeit, dann blickte ich dem Wagen nach, als Markus das Fahrzeug vom Parkplatz steuerte. Drei Generationen männlicher Mendels allein unterwegs.

Beim Abendessen entschied Markus »Ich nehme die Zypernplatte«, und legte die Karte zur Seite. Bernd entschied sich für Fisch, und ich wusste immer noch nicht, was ich essen wollte. Es klang alles so verlockend. Als die Bedienung an unseren Tisch trat, entschied ich mich spontan für einen griechischen Salat, den die Karte freilich als zypriotischen Salat auswies.
Bernd und ich hatten die Plätze strategisch so gewählt, dass Markus mit dem Rücken zur Bar saß. Ausnahmsweise hatte ich darauf verzichtet, dass Michael neben mir saß. Sein Kinderstuhl stand neben dem Stuhl seines Hasen, wie er Markus nach wie vor nannte. Markus war damit beschäftigt, Michael mit Reisbrei zu füttern, etwas was der Junge liebte, und was die Köche, auf unsere Bitte hin, extra für ihn gekocht hatten.
Die junge Frau, die meinen Salat und Bernds Fisch servierte, sagte zu Markus, dass seine Zypernplatte sofort käme.
»Osef«, krähte Michael vergnügt, als dessen warme Stimme zu Markus sagte: »Sie hatten unsere Zypernplatte geordert.« Die Überraschung war gelungen, Markus war perplex.
»Wo kommst du denn her«, fragte er völlig entgeistert.
»Aus der Küche, oder woher dachtest du, dass ich diese köstlich duftende Zypernplatte für zwei Personen habe«, neckte Josef Markus, um ihn, nachdem er die Platte abgestellt hatte, in seine Arme zu ziehen, für einen langen, sehr intimen Kuss.
»Aber du hast doch heute am Spätvormittag noch mit mir telefoniert.« Markus konnte es immer noch nicht fassen.
»Ja mein Hase, vom Münchner Flughafen aus. Ich kann dich doch deinen runden Geburtstag nicht ohne mich feiern lassen.«
Mittlerweile hatte sich auch die eigens zu diesem Anlass engagierte Musikerin eingefunden, deren Vorstellung wir am Abend zuvor nur nebenbei mitbekommen hatten. Da sie als erstes ein Happy Birthday anstimmte, wussten die anderen Gäste, was an unserem Tisch gefeiert wurde. Der Tag, der mit Melancholie begonnen hatte, fand ein fröhliches Ende.

Judith Weizmann entpuppte sich als eine vitale Achtundfünfzigjährige, die trotz ihrer Rolle als weibliches Oberhaupt, einer, in der chassidischen Tradition verwurzelten Familie, elegant gekleidet, mit dezentem, aber sicher sehr teurem Schmuck, an Elis Seite auf uns zukam.
Wir alle waren etwas angespannt. Da stand sie nun, Michaels andere Oma, mit einem kleinen Teddybären in der Hand, den sie Michael reichte, als sie ihm zur Begrüßung zärtlich über die Haare und die Wangen strich. Michael, auf Markus Arm sitzend, nahm den Teddy, versteckte aber fremdelnd seinen Kopf an Markus Hals.
Um den Jungen nicht zu verunsichern, hatten wir ihm nur gesagt, dass diese Frau Elis Mutter sei. Um ihm Judith Weizmann als seine zweite Großmutter vorzustellen, hielten wir Michael noch nicht für alt genug. Er betrachtete Markus und Josef als seine Eltern. Wie hätten wir ihm erklären sollen, dass er mit dieser fremden Frau verwandt ist.
Das Treffen fand am Freitag um die Mittagszeit statt. Eli hatte auf der Terrasse des Elysiums einen Tisch reserviert, und beim gemeinsamen Mittagessen löste sich die anfängliche Anspannung allmählich auf. Wir waren schnell dazu übergegangen, uns mit den Vornamen, statt der Familiennamen anzureden. Bald drehten sich unsere Gespräche um unsere Familien, unsere Kinder und Enkelkinder, natürlich auch um Katharina und Moshe, deren Verlust wir alle zu beklagen hatten.
So erfuhren wir von Judith, dass sie aus New York stammte, wo ihre Familie die Vorschriften der Thora und des Talmud nicht so pingelig auslegten, wie sie es im Elternhaus ihres Mannes vorgefunden hatte. Ihre Liebe zu ihm war Grund genug für sie, sich an die strengen Regeln und Sitten zu halten, und sie auch an ihre Kinder weiterzugeben. Aus ihren Erzählungen konnte man die Ambivalenz, die das Leben als erfolgreiche Kaufmannsfamilie und gleichzeitig ultraorthodoxe Juden mit sich brachte, spürbar nachvollziehen.
Wir waren längst beim Kaffee angekommen, als Bernd die Frage stellte, die ihn besonders beschäftigte, und worüber wir in den letzten Tagen lange diskutiert hatten, ob er sie direkt bei unserem ersten Zusammentreffen stellen konnte.
»Judith, ich, beziehungsweise wir, Irene und ich verstehen nicht, was unsere Tochter bewogen hat, zum Judentum überzutreten. Weißt du etwas darüber?«. Nun war die Frage gestellt, und ich versuchte, in Judiths Gesicht eine Regung zu erkennen.
»Unsere Kinder machen leider nicht immer das, was wir von ihnen erwarten. Bei manchen Dingen muss man sich fügen, da hat die Natur eine andere Disposition für sie vorgesehen als unsere Traditionen«, antwortete Judith. Worauf wollte sie hinaus, was hatte das mit Katharinas Übertritt zum Judentum zu tun?
»Wir sind davon ausgegangen, dass alle unsere Söhne früh heiraten, große Familien gründen und in der Firma mitarbeiten«, fuhr Judith fort. »Als Eli in der Pubertät war, wurde mir schnell klar, dass er keine Familie gründen würde. Ich habe sehr lange gebraucht, um meinen Mann davon zu überzeugen, dass Elis Veranlagung gottgewollt ist. Dass wir unseren Sohn so annehmen müssen, wie der Herr ihn uns geschenkt hat.« Allmählich begann ich zu verstehen, welche Richtung das Gespräch nehmen würde. Bernds Gesichtsausdruck konnte ich entnehmen, dass er nicht verstand, worauf Judith hinauswollte.
»Als Moshe darauf beharrte, Journalismus zu studieren, statt in das Familienunternehmen einzutreten, hat Chaim wochenlang kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Die Atmosphäre im Haus war zum Schneiden. Aber Moshe und Chaim, und auch Moshes Zwillingsbruder Erez, haben den gleichen Dickkopf. Ihr kennt sicher auch diese väterlichen Autoritätssprüche: „solange du deine Füße…“«, mehr sagte Judith nicht. Sie trank einen Schluck Kaffee und schaute versonnen übers Meer.
»Moshe hat sich also durchgesetzt. Ein weiteres Kind, was nicht nach den Vorstellungen der Eltern geraten ist«, bemerkte ich.
»Ja, und dann bringt uns Moshe eine Schickse als zukünftige Schwiegertochter ins Haus«, Judith seufzte.
»Schickse, meine Tochter ist doch keine Schickse«, mokierte sich Bernd.
»Schickse ist kein Schimpfwort, so bezeichnen orthodoxe Juden jede Frau, die nicht jüdischen Glaubens ist«, erklärte Eli ihm. Daraufhin beruhigte Bernd sich, vor allem, nachdem Judith uns erzählt hatte, wie schwierig es sein konnte, sich in
die Riten und Gebräuche einzufinden, wenn man sie nicht von klein auf vermittelt bekommen hatte.
»Katharina war ein sehr sensibler Mensch. Sie hat die Spannung, die in der Luft lag, sofort gespürt und erahnt, was der Auslöser war. Von Moshe wusste sie, wie Chaim sich gegen dessen Willen, Journalist zu werden, gewehrt hatte. Ihr war Religion egal. Das hat sie mir anvertraut. Sie konvertierte, damit es nicht zu einem neuerlichen Bruch zwischen Moshe und seinem Vater kam«, beendete Judith ihre Erklärung.
»Ich war gekränkt, dass sie unsere Abmachung verraten hat. Sie sollte doch meine Praxis übernehmen«, ließ Bernd sich vernehmen.
»Es sollte nicht sein. Beide sind tot, aber sie leben in Michael weiter.« Josef war es, der die melancholische Stimmung, von der wir alle erfasst waren, mit diesen nüchternen Worten durchbrach.
»Markus und ich setzen alles daran, Michael gute Väter zu sein, und ihn zu einem rechtschaffenen Menschen zu erziehen. Irene und Bernd sind liebevolle Großeltern, und wir wünschen uns nichts sehnsüchtiger, als das Michael in euch ebenso liebevolle Großeltern hat.«
»Meine Liebe ist ihm schon lange gewiss«, sagte Judith und öffnete das diamantbesetzte Medaillon, in dem Michaels, zur Miniatur verkleinertem Foto,
zum Vorschein kam.
»Habt ihr Michael…«, Judith stockte, fuhr dann fort: »ist Michael Christ?«
»Michael ist nicht getauft. Noch nicht«, beantwortete Markus Judiths Frage.
»Gemäß seiner Geburtsurkunde ist er Israeli und Jude. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat er ebenfalls, da seine Mutter Deutsche war. Wir haben uns bewusst gegen eine Taufe entschieden. Wenn Michael alt genug ist, um zu begreifen, worin sich die einzelnen Religionen unterscheiden, soll er selbst entscheiden, ob er als Jude, Christ, Moslem oder Atheist leben will.«
»Das wird Chaim nicht gefallen. Du bist mit deiner liberalen Einstellung Lichtjahre von der Seinen entfernt. Er würde jetzt argumentieren, wie Michael seinen jüdischen Glauben leben soll, wenn er nicht darin unterrichtet und entsprechend erzogen wurde. Du bist deiner Schwester sehr ähnlich, so wie auch Moshe und Erez als Zwillinge ein Herz und eine Seele sind«, sagte Judith zu Markus. »Ich werde noch lange und mit viel Fingerspitzengefühl auf Chaim einreden müssen, bis er sich damit abfindet, dass Michael von euch beiden erzogen wird. Aber ich verspreche euch, dass ich mein Möglichstes tun werde.« Nichts anderes hatte ich erwartet.
Im Laufe des Nachmittages ließ das Fremdeln bei Michael nach, so dass Judith ihn auch mal umarmen konnte, was sie sehr glücklich machte, wie ich in ihren Augen lesen konnte.
Der Nachmittag ging schneller vorüber, als wir es erwartet hatten, und bald befanden wir uns auf der Rückfahrt nach Pissouri.
Eli und Judith blieben leider nur bis zum Sonntag, viel zu kurz für Judith, um ihren Enkel besser kennenzulernen. Wir trafen uns täglich, mal im Hylatio, mal im Elysium, wobei wir auch einige Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten machten, damit Judith Fotos schießen und sich einen Überblick verschaffen konnte. Sie musste darauf vorbereitet sein, Chaims Fragen zu beantworten, der sicher von ihr würde wissen wollen, was sie sich alles angesehen hatte.
So besichtigten wir Koúrion, die neben Páfos spektakulärste archäologische Stätte im griechischen Teil Zyperns, wo neben der 30 Zimmer Villa des Eustolios, mit den verschwenderischen Bodenmosaiken, das antike Theater besonders hervorstach.
Im archäologischen Park in Páfos bewunderten wir die auf das dritte Jahrhundert nach Christus datierten Mosaiken im Haus des Dionysos, wo im Raum Acht das Bodenmosaik Zeus darstellt, der an Ganymed, dem außergewöhnlich schönen Sohn eines trojanischen Königs, Gefallen gefunden hat, und in Gestalt eines Adlers, diesen auf den Olymp entführt.
Judith und Eli machten jede Menge Fotos, wobei Judith mit zwei Kameras hantierte und sorgsam darauf achtete, bei Aufnahmen, auf denen Michael zu sehen war, den richtigen Apparat zu verwenden.
Sie wollte möglichst viele Fotos von Michael haben, die sie in ihren privaten Unterlagen verwahren würde. So gab es offizielle und inoffizielle Fotos. Die offiziellen waren vor allem für Chaim und die restliche Familie gedacht.
Als wir uns von Judith und Eli am Sonntagnachmittag verabschieden mussten, ihr Flug ging am frühen Abend, hatten wir das Gefühl, Judith schon seit Ewigkeiten zu kennen. Trotz der kulturellen Unterschiede standen wir uns sehr nahe. Michael, unser aller Sonnenschein, hatte auch ihr Herz im Sturm erobert. Ich war mir sicher, dass sie nichts unversucht lassen, und so lange keine Ruhe geben würde, bis Michaels anderer Großvater die Dinge so akzeptierte, wie sie nun einmal waren.

»Ihr beide seht ganz schön müde aus«, sagte Bernd zu unseren Söhnen, als wir am Abend zu Tisch saßen. Gegenüber Freunden und Bekannten hatten wir es uns schon seit längerer Zeit angewöhnt, Josef als Sohn zu bezeichnen. Unsere Freunde wussten um das Verhältnis der beiden, und entfernteren Bekannten auseinanderzuklamüsern, wie die zwei verbandelt waren, hielten wir nicht für nötig.
»Kein Wunder«, lachte Bernd, »schwimm du mal nachts drei Runden um den Aphrodite Felsen.«
»Nur unserer ewigen Liebe wegen«, stimmte Markus ein. Sie hatten wohl auch beide im Reiseführer die Passage über Riten in Vollmondnächten gelesen.
Josef musste leider schon an dem darauffolgenden Dienstag zurückfliegen. Uns vieren blieb noch die restliche Zeit bis zum Samstag. Zeit, die wir damit verbrachten, zumeist faul am Strand zu liegen.

Kapitel 19 – Josef

Meinen Vierzigsten feierten wir nur im kleinen Kreis. Da er auf einen Arbeitstag mitten in der Woche fiel, beschränkten wir uns darauf, abends essen zu gehen. Erst am folgenden Wochenende gab es eine kleine Feier mit den engsten Freunden, meinen Angestellten sowie engsten Geschäftspartnern und natürlich Markus Eltern, die nun zum letzten Mal in einem Hotel übernachten mussten. Wir hatten sie in der Post untergebracht, die einzig größere Gaststätte im Ort, die auch über Fremdenzimmer verfügte. Nur mein Vater fehlte, was mir während des ganzen Trubels schmerzhaft bewusst wurde. Seine Demenz schritt so rasch voran, dass ich bei jedem Besuch damit rechnen musste, dass er mich nicht mehr erkennen würde.
Die größte Überraschung an diesem Samstagabend machten mir die beiden Schreinermeister, denen ich vor einigen Monaten versucht hatte, die Vorteile einer Kooperative schmackhaft zu machen. Sie hätten beide gründlich nachgedacht, Vor- und Nachteile abgewogen und seien zu dem Ergebnis gekommen, dass so eine Zusammenarbeit mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringen würde. Beide keine großen Redner vor dem Herrn, zudem schon mit einigen Maß Bier intus, verhaspelten sich bei ihrer Rede, die sie gemeinsam vortrugen, mehrfach.
»Mein Gott Josef«, flüsterte Markus mir ins Ohr, «deine Wünsche scheinen schneller in Erfüllung zu gehen, als du dir das vorgestellt hast.« Hoffentlich behielt Markus recht, und die beiden erinnerten sich auch noch am kommenden Tag daran, was sie gerade so vollmundig kundgetan hatten.
Das schönste Geschenk, an dem sich auch Irene und Bernd beteiligten, erhielt ich von Markus; eine Reise nach Wien, über Silvester, inklusive Karten für den Besuch der Fledermaus in der Wiener Oper und anschließendem Besuch der Sacher Stube. Die Idee mit den Karten für die Oper stammte von Irene. Die Sacher Stube war auf Markus Mist gewachsen. Das erzählte er mir, nachdem wir sehr spät in der Nacht endlich in unser Bett gefunden hatten.
»Ich habe ein schnuckliges Hotel für uns gefunden«, strahlte er mich an, «direkt in der Nähe des Stephan Doms, unweit vom Kaiser Bründl«.
»Möchtest du am ersten Januar zum Gottesdienst in den Dom, oder warum erwähnst du die besondere Lage des Hotels?«, wollte ich wissen.
»Ich dachte viel eher daran, dass wir uns am zweiten Januar einen entspannten Nachmittag im Kaiser Bründl gönnen«, flüsterte Markus mir ins Ohr.
Da ich darauf nicht weiter reagierte, fragte Markus, ob ich denn nicht wisse, um was es sich bei dem Kaiser-Bründl handele.
»Kaiser ist klar, und Bründl kann ja nur von Brunnen abgeleitet sein. Also nehme ich an, dass es sich um ein Thermalbad handelt, wobei ich allerdings nicht weiß, woher die Wiener eine Therme nehmen wollen«, beantwortete ich Markus Frage.
»Fast richtig, bis auf die Therme. Es ist eine Sauna, um nicht zu sagen, die Gay-Sauna in Wien, in der man gewesen sein muss. Und nicht nur wegen des Jugendstils«, klärte Markus mich auf.
Das schien mir ein Zeichen zu sein, dass es Markus allmählich besser ging. Wir hatten eine lange Phase hinter uns, in der der Sex keine Rolle mehr zu spielen schien. Wenn Markus nun den Besuch eines solchen Lusttempels in Erwägung zog, würde dies sicher auch zu Intimitäten führen.

Geschockt war ich einige Tage später, als ich von Jürgen, einem der beiden Schreinermeister, mit denen ich im Begriff war, die Kooperative zu gründen, erfuhr, dass die Freundin seines Mitarbeiters Kevin bei dem Bombenanschlag in Kuta ums Leben gekommen war. Kevin war schwerverletzt von der australischen Luftwaffe ausgeflogen worden und lag nun in einer Klinik in Darwin. Ich kannte Kevin gut, schätzte seine Arbeit sehr und wusste, dass er und seine Freundin lange gespart hatten, um sich diesen Traumurlaub, bei dem er ihr einen Heiratsantrag machen wollte, leisten zu können.
Bali, die Trauminsel in indischen Ozean, keine zwei Flugstunden vom australischen Perth entfernt gelegen, war am zwölften Oktober in die Schlagzeilen geraten, als ein Selbstmordattentäter sich, um kurz nach dreiundzwanzig Uhr in Paddys Bar, in die Luft sprengte. Knappe zehn bis fünfzehn Sekunden später hatte es vor dem Sari Club eine zweite Explosion gegeben, als ein Van per Fernzündung in die Luft gesprengt wurde. Im Fernsehen wurden Bilder von der Verwüstung gezeigt. Keiner von uns hatte beim Anblick dieser schrecklichen Bilder daran gedacht, dass Kevin und Bianca dort gerade ihren Urlaub verbrachten.
Nun war das Grauen, hinter dem man die islamistische Organisation Jemaah Islamiyah (JI) vermutete, und ihr Verbindungen zu Al-Qaida, einem losen, weltweit operierenden, terroristischen Netzwerk, meist sunnitisch-islamistischer Gruppierungen, nachgesagt wurden, auch in unserem beschaulichen Deining angekommen. Zweihundertzwei Tote, und Bianca war eine von ihnen.
Die Mehrzahl der Toten waren Australier, die zu den zahlreichsten Besuchern Balis zählten und von Al-Qaida als Steigbügelhalter der USA angesehen wurden, die nach dem Desaster vom elften September 2001 einen Krieg gegen den Terror führten, wie George W. Bush die Antiterrormaßnahmen bezeichnete.
1984, nach mehreren Flugzeugattentaten und dem Anschlag auf die internationalen Friedenstruppen in Beirut, hatte Präsident Ronald Reagan erstmals diesen Begriff gebraucht. Zusammengefasst wurden darunter Maßnahmen der US-Regiering im Nahen Osten und in Afrika. Zuvor hatte, im Zusammenhang mit der Entführung der Lufthansa Boeing „Landshut“ nach Mogadischu, das Time Magazin 1977 diesen Begriff verwendet.

Dieser Oktober war von Gewalt geprägt. Etwa vierzig bis fünfzig bewaffnete Personen, die sich der Tschetschenischen Separatistengruppe zuordneten, hatten am dreiundzwanzigsten das Moskauer Dubrowka-Theater während einer Vorstellung gestürmt und achthundertfünfzig Personen in ihre Gewalt gebracht.
Der Anführer, Mowsar Barajew, ein Neffe des getöteten tschetschenischen Milizkommandanten Arbi Barajew, forderte den sofortigen Rückzug der russischen Truppen aus Tschetschenien. Allen, die einen ausländischen Pass vorweisen konnten, bot er die sofortige Freilassung an, was von den russischen Unterhändlern abgelehnt wurde. Sie verlangten die Freilassung sämtlicher Geiseln.
Am Morgen des Sechsundzwanzigsten pumpten Spezialeinheiten des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB unbekannte Chemikalien in die Belüftungsanlage und stürmten kurze Zeit später das Theater. Die betäubten Terroristen wurden an Ort und Stelle von den Spezialeinheiten getötet. Von den einhundertdreißig getöteten Geiseln starben fünf durch die Hand der Geiselnehmer, ein-hundertfünfundzwanzig aufgrund unzureichend medizinischer Behandlung an den Folgen des Gaseinsatzes.

Aber der Herbst hielt auch eine äußerst positive Überraschung für uns bereit, besser gesagt für Markus.
Er hatte sein Manuskript über das Eisenbahnwesen in der indischen Provinz Kerala zu Ende geschrieben und auf der Suche nach geeignetem Fotomaterial ein Exemplar davon an das indische Fremdenverkehrsbüro nach Frankfurt geschickt. Auf welche Weise dieses Exemplar seinen Weg zur indischen Botschaft in Berlin fand, wusste Markus nicht, das war auch völlig nebensächlich. Jedenfalls kam Mitte November ein Schreiben, eines für den Fremdenverkehr zuständigen Attachés, indem er seine Bewunderung über das Manuskript ausdrückte, und dem er auch die von Markus erbetenen Fotos beigelegt hatte. Die große Überraschung war die Anfrage, ob Markus über Kapazitäten verfügen würde, um Bücher über weitere Bahnstrecken auf dem indischen Subkontinent zu verfassen. Außerdem bat man ihn darum, sein Manuskript, sowohl in die englische als auch in verschiedene indische Sprachen übersetzen und publizieren zu dürfen.
»Dabei ist es nicht einmal auf Deutsch erschienen«, sagte Markus mit stolzgeschwellter Brust.
»Hast du es denn einem Verlag zugeschickt?«, wollte ich wissen, wusste die Antwort aber schon, kaum dass ich den Satz gesagt hatte. Konnte er ja nicht gemacht haben, ihm fehlten ja die geeigneten Fotos, die zahlreich, sowohl schwarzweiß als auch farbig, auf seinem Schreibtisch lagen, der nun das komplett neu eingerichtete Büro be-herrschte.
»Wieso haben sie dir nicht angeboten, das Buch auch in deutscher Sprache zu publizieren?«, wollte ich von Markus wissen.
»Ich kann mir denken warum«, sagte Markus und griff nach dem Ordner, in dem er wohl seine Korrespondenz aufbewahrte.
»Unglückliche Formulierung, sieh selbst«, Markus hielt mir die Kopie des Briefes an das Fremdenverkehrsbüro unter die Nase. …benötige ich für die Veröffentlichung bei meinem deutschen Verlag…, las ich. Damit war klar, warum die Inder ihm das nicht angeboten hatten.
Wie nicht anders von Markus zu erwarten war, rief er am nächsten Tag in Berlin an. Zwei Stunden, so berichtete er mir, hatte er mit dem Attaché gesprochen, und dieser hatte ihn nach Berlin eingeladen, um die Einzelheiten zu besprechen.
Mitte Dezember war Markus für zwei Tage nach Berlin geflogen, und als er wieder zuhause war, hatte er den Vertrag unter Dach und Fach. Das Amt für Tourismus in Neu Dehli würde fortan für die Publikationen zuständig sein, Markus brauchte sich um Druck und Verlag nicht weiter zu kümmern, er brauchte nur noch die Tantiemen einzustreichen.

Unser Sonnenschein bescherte uns natürlich die glücklichsten Stunden. Michaels Wortschatz wurde immer größer, und er redete immerzu. Das meiste war freilich noch nicht zu verstehen, aber es war jetzt schon klar, dass er ein sehr kommunikativer Mensch war. Er war der Extrovertierte, würde nie zu den Introvertierten gehören, soviel stand bereits, mit seinen nahezu zwei Jahren, definitiv fest.

Kapitel 20 – Markus

Wir saßen an diesem Sonntagmorgen an unserem Esstisch beim Frühstück, ich mit Michael auf dem Schoß, der zum gefühlten tausendsten Mal sein Lieblingsbuch vorgelesen haben wollte, Josef in seine Zeitung vertieft, hinter der er von Zeit zu Zeit Kommentare verlauten ließ.
»Stell dir vor, die Amis bombardieren offenbar einfach wild drauf los, nach dem Motto, irgendwann kriegen wir den Sauhund schon«, ließ er sich vernehmen.
»Zum Glück ist Schröder standhaft geblieben, und unsere Jungs müssen da nicht auch dort noch ihre Köpfe hinhalten«, sagte ich. Michael, der wollte, dass ich ihm weiter vorlas, quengelte. Ich gab ihm einen Kuss auf seinen Kopf und beschied ihm, dass er sich jetzt mal allein unterhalten musste, der Papa müsse den Tisch abräumen.
»Lass mal, das mache ich schon«, sagte Josef und legte die Zeitung zur Seite.
»Hoffentlich finden sie ihn bald und bombardieren nicht den halben Irak in Schutt und Asche«, bei der Erinnerung an die Bilder, die CNN seit Beginn der Bodenoffensive fast pausenlos rund um die Uhr ausstrahlte, bekam ich Magendrücken.
»Dafür wird schon die amerikanische Rüstungsindustrie sorgen«, bemerkte Josef. »Die müssen doch sicherstellen, dass genügend Waffenmaterial verheizt wird, damit sie neues produzieren können. Davon leben sie ja schließlich und nicht schlecht, wie man sich ausrechnen kann, auch ohne Gauß zu heißen.« Ich musste grinsen. Josef liebte es, bei seinen Bemerkungen, Anspielungen auf Wissenschaftler zu machen, vor allem, wenn er davon ausgehen konnte, dass die meisten Leute nie von denen gehört hatten.
»Den Hinweis auf Gauß hättest du dir bei mir sparen können, ich weiß, dass Johann Carl Friedrich Gauß bereits zu seinen Lebzeiten als Princeps Mathematicorum galt«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. Michael quengelte nun heftiger.
»Hallo junger Mann, du holst dir jetzt mal deine Wachsmalstifte und den Block und malst was Schönes für Josef«, versuchte ich den kleinen Zappelphilipp zu besänftigen. Tatsächlich kletterte er von meinem Schoß und lief zu seiner Spielkiste, in der er alles verwahrte, was ihm ans Herz gewachsen war. Lange würde es nicht anhalten, aber mit etwas Glück hatten wir eine halbe Stunde Ruhe vor unserem quirligen Sonnenschein.
»Mir tun vor allem die Frauen und die Kinder leid«, sagte ich zu Josef. »Du wirst sehen, das wird wieder eine Flut von Flüchtlingen geben. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Türkei sie bereitwillig aufnehmen wird. Die Türken nehmen eher die Gelegenheit wahr, sich der verhassten Kurden zu entledigen.«
Am letzten Donnerstag, dem zwanzigsten März, hatten zeitgleich mit dem Angriff auf den Irak, tausend Soldaten der 82. Luftlande Division der US-Streitkräfte in Afghanistan, in der Nähe von Kandahar, die größte Offensive, seit einem Jahr, gegen die Taliban und Al-Qaida gestartet.
Gestern hatte der Irak mehr als dreißig Ölfelder in Brand gesteckt, und am Abend hatten die USA mit Unterstützung der Briten mit dem Bombardement auf Bagdad begonnen. Dabei war auch der Regierungspalast getroffen worden. Ein Sprecher der Irakis hatte aber verkündet, dass Saddam Hussein und seiner Familie nichts passiert sei. Schon am Donnerstag, um 3:30 Uhr mitteleuropäischer Zeit, hatte man erste Marschflugkörper auf Bagdad niedergehen lassen, dabei das Regierungsviertel aber verfehlt. Im Vorfeld des Irakkrieges war es weltweit zu Massendemonstrationen gekommen. Das Verhältnis zwischen den USA und Deutschland war angespannt. Am achten Februar hatte Bundesaußenminister Joschka Fischer bei der Friedenskonferenz in München, mit den Worten „I am not convinced“, die mangelnde Bereitschaft der Bundesrepublik, die USA bei ihrer geplanten Invasion zu unterstützen, begründet.
Am dreizehnten März war es bei einer UN-Vollversammlung wegen des Irakkonfliktes zum offenen Bruch zwischen Frankreich und den USA gekommen. Damit war klar, dass es für die, von den USA, zusammen mit Großbritannien und Spanien, eingebrachte neue Kriegs-Resolution keine Mehrheit geben würde.
Diese ersten drei Monaten des Jahres 2003 waren sehr turbulent. Während Abertausende gegen einen neuen Krieg auf die Straße gingen, gossen die amerikanischen Kriegstreiber ständig Öl ins Feuer. Und nun brannte der Irak.
Wie angenehm war dagegen das letzte Jahr zu Ende gegangen. Mitte Dezember waren unsere Umbaumaßnahmen abgeschlossen, und als letztes Zimmer hatten wir, kurz vor Weihnachten, das Gästezimmer möbliert, in dem meine Eltern, während ihres Besuches über Weihnachten, unsere ersten Übernachtungsgäste waren.
Meinen Besuch in Berlin, zu dem mich der indische Tourismus Attaché eingeladen hatte, werde ich wohl nie mehr vergessen. Der etwa fünfzigjährige, der sich mir als Mahatma Chandra vorstellte, war selbst Eisenbahnenthusiast und von meinem Manuskript über die Kerala Bahn so begeistert, als habe er nie zuvor etwas Vergleichbares gelesen. Mittels der mir vom indischen Verkehrsbüro in Frankfurt überlassenen Fotos, war ich in der Lage gewesen, das bestehende Manuskript um vierzig bebilderte Seiten zu erweitern. Mein Eisenbahnenthusiast war sehr erstaunt, als er erfuhr, dass ich noch nie Indien bereist und alle Angaben vom Schreibtisch aus recherchiert hatte. Indien, so erklärte er mir, wolle in den kommenden Jahren viel in den Tourismus investieren, um Touristen aus Europa, den Staaten und Kanada ins Land zu locken. Außer den prächtigen Palästen diverser Maharadschas verfüge sein Land über mehr als siebzehntausend Kilometer Küste, die sich größtenteils touristisch nutzen ließ, und natürlich über bedeutende Berge, darunter einunddreißig Siebentausender und mit dem 8586 Meter hohen Kangchenjunga, wenigstens auch einen Achttausender. Über die Berge sei schon sehr viel geschrieben worden, auch über einige der Paläste, wobei natürlich der Taj Mahal am Südufer des Flusses Yuma, am Stadtrand von Agra gelegen, wohl das bekannteste sei, wenngleich es sich nicht um einen Palast, sondern um das Mausoleum, der im Jahre 1631 verstorbenen Mumtaz Mahal handelt, der großen Liebe des muslimischen Großmoguls Shah Janan.
»Aber über unsere Eisenbahnen gibt es nicht sehr viel und wenn, dann häufig nur Technisches«, berichtete Herr Chandra. »Wir möchten die Touristen dazu ermutigen, auch das Landesinnere zu erkunden, nicht nur die Hot Spots zu besuchen. Da können so lebendige Bücher, wie das ihre zu werden verspricht, sehr dazu beitragen, Herr Mendel.« Ich wusste ja schon von unserem Telefonat, dass man noch mehr Bücher von mir haben wollte und wartete, welches Angebot er mir machen würde.
Mein Erstlingswerk wollten sie nicht nur als Taschenbuch, so wie ich es vorgesehen hatte, sondern auch als Bildband herausbringen. Der Bild-band sollte noch etwas umfangreicher sein, wofür mir Herr Chandra umfassendes Fotomaterial zusagte. Beide Bücher sollten in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache, sowie einigen asiatischen Sprachen, darunter Japanisch und Chinesisch erscheinen. Aus meinem einst als bescheidenen Beitrag für ein Reisemagazin geplanten Bericht würde ein Mammutwerk werden. Auch die Vergütung konnte sich sehen lassen, bot man mir doch vierzig Prozent des Erlöses an. Die Bücher würden bevorzugt über die indischen Fremdenverkehrsbüros beworben und vertrieben werden, sollten aber auch über den Buchhandel bezogen werden können. Das hörte sich für mich wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht an.
Dann unterbreitete mir Herr Chandra ein Angebot, das alle Möglichkeiten, die ich mir vorgestellt hatte, weit in den Schatten stellte.
Ich sollte ein Buch über die Indian Railways schreiben, auch wieder als Bildband. Damit ich mir ein Bild von diesem gigantischen Unternehmen machen konnte, schlug er mir vor, mich vor Ort kundig zu machen. Die Reisekosten würden übernommen werden, ich bekäme Zutritt zu allen Lokalitäten, und Führerstandsmitfahrten seien selbstverständlich möglich.
Als ich ihm sagte, dass ich mich sehr geehrt fühle, aber ein kleines Kind zu versorgen hätte, und zunächst einmal abklären müsse, wie ich Michaels Versorgung während einer längeren Reise gemanagt bekäme, tauchte die berechtigte Frage nach Michaels Mutter auf. Da ich unsere, nicht nur für einen Inder, wie liberal er auch immer sein mochte, etwas ungewöhnliche Familienkonstellation nicht erklären wollte, beließ ich es dabei, ihm zu sagen, dass Michaels Mutter gestorben sei. Herr Chandra drückte sein Bedauern darüber aus und vertiefte das Thema dann auch nicht weiter.

Diese neue Entwicklung war Weinachten ein großes Thema. Josef hatte ich, nach meiner Rückkehr aus Berlin, nicht die ganze Geschichte erzählt. Von der Einladung nach Indien wusste er noch nichts.
Meine Mutter war skeptisch, meinte, ich solle darauf achten, mich nicht zu übernehmen. Mein Vater hingegen war Feuer und Flamme. Auch Josef sicherte mir sofort seine Unterstützung zu. Als wir über Silvester und Neujahr in Wien waren, hatten wir Zeit, uns ausführlicher damit auseinanderzusetzten.
Wien war einfach herrlich. Wir genossen es, einmal Zeit für uns zu haben, saßen tagsüber in den fantastischen Kaffeehäusern, suchten uns abends nette Lokale in der Nähe unseres Hotels und nachts die Nähe zueinander, wo wir bei unseren Intimitäten nicht damit rechnen mussten, von Michaels Rufen oder Besuchen gestört zu werden.
Die Aufführung der Fledermaus war grandios. Josef, sonst kein großer Fan „schwerer Kost“, wie er klassische Musik gerne nannte, war mehr als begeistert. Vor allem Angelika Kirchschlager, die den Prinzen Orlofsky sang, hatte es ihm angetan. Zukünftig, so hoffte ich insgeheim, würde ich ihn auch mal zum Besuch einer Vorstellung in unserem Nationaltheater bewegen können. Es musste ja nicht gleich Don Carlos oder Wagners Ring sein.
Wenn ich gehofft hatte, dass wir in den Sacher Stuben bis in die frühen Morgenstunden in das neue Jahr hineinfeiern könnten, so wurde ich enttäuscht. Bereits um halb eins, kaum dass das Feuerwerk seinen Höhepunkt erreicht hatte, kam der Ober, um abzukassieren, man wolle Feierabend machen. Bei einem Haus mit diesem Renommee hätte ich so etwas nicht erwartet. Wir waren halt nicht im Sacher, wo wir bis in die Puppen hätten weiter feiern können, sondern nur in den etwas preiswerteren Sacher Stuben.
Der frühe Rausschmiss hatte aber auch einen Vorteil, bekamen wir dadurch doch auch von dem Trubel auf den Straßen etwas mit. Außerdem landeten wir zu vorgerückter Stunde, in der Nähe des Naschmarktes, in einem schwulen Lokal, wo die Stimmung sehr ausgelassen war, und selbst ich nicht widerstehen konnte, das Tanzbein zu schwingen.

Kapitel 21 – Bernd

Mit Michaels Hilfe bemalte ich Ostereier, wobei seine Unterstützung im Wesentlichen darin bestand, die Farbe auf dem Tisch zu verteilen. Seit fast zwei Wochen war Michael bei uns, während Markus sich auf einer Indienreise befand und Josef so in das neue Projekt eingespannt war, dass er sich unmöglich allein um unsren Enkel kümmern konnte.
Übermorgen war Karfreitag, da würde Markus am frühen Nachmittag, aus Neu Dehli kommend, in Frankfurt landen und Josef, wenn alles gut lief, schon da sein. Am Ostermontag würde die kleine Familie wieder nach Hause fahren, dann waren die zwei Wochen, in denen ich mich um Michael gekümmert hatte, vorbei. Gleich zu Beginn hatte ich mir einen bösen Blick von Markus und Irene eingefangen, als ich beim Anblick des Pampersberges die Frage nicht verkneifen konnte, ob Michael immer noch nicht stubenrein sei. Frühestens im Alter von etwa drei Jahren sei damit zu rechnen, wurde ich von den beiden belehrt, es könnten aber auch durchaus fünf Jahre werden, bevor ein Kleinkind trocken sei. Im Übrigen würde man bei Menschen nicht von stubenrein sprechen, hatte Markus noch hinzugefügt. Einzig Josef war mir beigestanden, hatte er doch den Joke verstanden.

Eigentlich wollten wir heute am frühen Nachmittag die Einkäufe für Ostern erledigen, aber Irene hatte vor gut einer Stunde angerufen und angekündigt, dass sie die Praxis wohl nicht pünktlich würden schließen können. Beunruhigt durch die sich häufenden SARS Erkrankungen, die sich mittlerweile auch in Europa ausweiteten, strömten die Patienten nur so in die Praxis. Dabei hatten die meisten nicht mal einen richtigen Husten, von Atemnot ganz zu schweigen. Bereits am zweiten April hatte die WHO in Genf, erstmals in ihrer Geschichte, vor Reisen in eine nicht vom Krieg betroffene Region gewarnt und riet von Reisen in die chinesische Provinz Guangdong sowie in die Son-derverwaltungszone Hongkong ab. Am Neunten hatte die Schweizer Fluggesellschaft Swissair, aufgrund des Ausbreitens des Schweren Akuten Atemwegssyndroms, bis auf Weiteres, sämtliche Flüge nach Tokio gestrichen. Am letzten Sonntag hatte eine internationale Forschergruppe das Genom des Coronavirus-Typs, den man als Ursache dieser Atemwegserkrankungen vermutete, entschlüsselt. Dieses Virus hätte man nicht auch noch gebraucht. Die andauernden Nachrichten aus dem Irak waren schon beunruhigend genug.
Im dritten Golfkrieg hatte man mittlerweile das Zentrum Bagdads in Schutt und Asche gebombt. Britische Truppen hatten, nach heftigen Gefechten, die fünfzehn Kilometer von Basra entfernt liegende Großstadt Zubair unter ihre Kontrolle gebracht. Der Krieg weitete sich, trotz anhaltender Proteste, immer weiter aus. US-Außenminister Collin Powell und der türkische Ministerpräsident Abdullah Gül hatten die logistische Unterstützung der US-Streitkräfte im Nordirak, durch die Türkei, unterzeichnet. Mir schwante Schlimmes, als ich das in der Zeitung las. Ein gefundenes Fressen für die Türken, um Jagd auf die verhassten Kurden zu machen.
In Bern hatte der Schweizer Bundesrat beschlossen, sämtliche, für irakische Kunden geführte Konten zu sperren. Damit war der irakischen Elite zumindest der Zugriff auf ihres in der Schweiz gebunkerten Geldes verwehrt. Weder von amerikanischen, britischen oder spanischen Banken hörte man Entsprechendes.
Während die Amerikaner weiterhin erfolglos Jagd auf Saddam Hussein machten, hatte das irakische Fernsehen einen Beitrag ausgestrahlt, in dem dieser, beim Besuch eines zerstörten Stadtteils Bagdads, gezeigt wurde, wobei er die Bevölkerung zum Widerstand aufrief.

Irene kam tatsächlich sehr spät und fuhr dann auch allein zum Einkaufen, da es sonst für Michael zu spät geworden wäre. Wir versuchten den Rhythmus mit den Mahlzeiten möglichst genau so einzuhalten, wie er das von zuhause gewohnt war. Während Irene den Supermarkt plünderte, anders konnte man die Mengen, die sie nach Hause brachte, nicht bezeichnen, hatte ich uns einen Nudelauflauf gemacht, etwas von dem wir sicher sein konnten, dass es auch Michael schmeckte.
Nach dem Abendessen, als Michael nach einer Runde Vorlesen endlich schlief, und wir uns die Nachrichten angesehen hatten, öffnete Irene den Brief, der heute aus Tel Aviv angekommen war.
»Was schreibt Eli?«, wollte ich wissen, während ich das Foto betrachtete, dass dem Brief beilag, von dem Eli und Josh, gutgelaunt und fröhlich grinsend, mir entgegen blickten.
»Sein Vater hat das Foto entdeckt, das Eli in Koúrion geschossen hat. Du weißt schon, dieses, worauf Michael auf Judith zuläuft.«
»Und, wie hat er reagiert?« Ich legte das Foto zur Seite und wartete darauf, dass Irene meine Frage beantworten würde. Erst nachdem sie den Brief zu Ende gelesen hatte, erfuhr ich, dass Judith nicht den Mut aufgebracht hatte, Chaim Weizmann zu gestehen, dass es sich bei dem Kind um seinen Enkel handelt. Stattdessen hatte sie ihm etwas von einem Zufallsfoto erzählt. Gerade als Eli den Auslöser betätigte, hätte sich der Junge von der Hand seiner Mutter losgerissen und sei auf sie zu gerannt.
»Judith hat uns auch ein paar Zeilen geschrieben, hier lies selbst«, Irene drückte mir ein dünnes Blatt Luftpostpapier in die Hand.
„… leider immer noch nicht erzählen, dass ich unseren Enkel in den Armen gehalten habe. Chaim hegt dazu immer noch zu großen Groll gegen Markus und alle, die ihm geholfen haben, Michael außer Landes zu bringen. Seitdem er die geschäftlichen Probleme bewältigt hat, spricht er wieder häufig davon, dass er alles, was in seiner Macht steht, unternehmen wird, damit Jonathan im Glauben seiner Ahnen erzogen wird.“
»Denkst du das gleiche wie ich?« Irene nickte mit dem Kopf. Sie brauchte nicht zu fragen, was ich meinte. Die nonverbale Konversation hatte zwischen uns beiden nahezu vom ersten Tag an funk-tioniert.
»Wir müssen es Markus und Josef sagen. Sie müssen die Augen aufsperren und dürfen Michael nicht aus den Augen lassen«, sagte Irene.
»Wie stellst du dir das vor?«, wollte ich von ihr wissen, »Josef ist den ganzen Tag über auf seinen Baustellen unterwegs und Markus mit seinen Projekten beschäftigt. Außerdem soll Michael ja in den Hort, wie ich Josef vor zwei Wochen verstanden habe, als sie uns den Kleinen brachten.«
»Ich halte nichts davon, den Jungen mit nicht einmal drei Jahren, in einen Hort zu geben«. Den Ton, indem Irene das sagte, kannte ich nur zu gut. Das war genau der Ton, indem sie auch ihren renitenten Patienten klar machte, dass sie die, von ihr verordneten, Medikamente zu nehmen hatten.
»Du kennst Markus genauso gut wie ich. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann zieht er das durch. Und im Fall des Hortes, glaube ich, steht Josef voll auf seiner Seite, egal, was du davon hältst oder nicht.« An der Art, wie sich Irenes Stirn in Falten legte, konnte ich sehen, dass ihr mein Kommentar nicht gefiel.

Josef hatte Stunden im Stau gestanden. Ein schwerer Verkehrsunfall auf der A8, in Höhe des Aichelbergs, ausgerechnet in dem Bereich, in dem es keinen Standstreifen gibt, hatte zu einer Vollsperrung geführt. Ein heilloses Durcheinander, die Rettungskräfte waren zunächst nicht durchgekommen, der hinzugerufene Helikopter hatte nicht landen können. Josef hatte angerufen und uns gesagt, dass es sehr spät werden könnte.

Markus hatten wir am Nachmittag am Rhein-Main-Flughafen abgeholt. Michael ließ sich kaum noch halten, als Markus mit seinem Gepäck durch die sich öffnende Milchglastür trat, die die Wartehalle vom Gepäckempfang trennt. „Hase“, „Hase“, hatte er immer wieder gerufen, was den Umstehenden ein Lächeln ins Gesicht zauberte, als sie feststellten, dass Michael Markus damit meinte. Während der gesamten Rückfahrt hatte Michael ohne Unterbrechung Markus von seinen Erlebnissen während der letzten beiden Wochen erzählt.
So kam Markus erst zuhause, nachdem er sich geduscht und umgezogen hatte, dazu, uns von seiner Reise zu berichten, und unzählige Fotos zu zeigen, die er mit seiner digitalen Spiegelreflexkamera, dem neuesten Schrei von Kyocera, geschossen hatte. Die sündhaft teure Kamera war Josefs Weihnachtsgeschenk für Markus gewesen.
Michael war dabei nicht von Markus Seite gewichen. Zu sehen, wie die beiden, eng aneinander gekuschelt, auf dem Sofa saßen und Michael an Markus Lippen hing, als dieser Anekdoten zu den Fotos zum Besten gab, versetzte mir einen Stich ins Herz, wenn ich daran dachte, dass Chaim Weizmann nichts unversucht lassen würde, um Michael in seine Obhut zu bringen.
»Wie war es in Dehli?«, wollte Irene von Markus wissen und sah ihn erwartungsvoll an.
»Puh, womit soll ich anfangen«, antwortete Markus, und fing dann an zu erzählen, »heiß, stickig, laut, zum Teil dreckig, alles in allem aber grandios. Wenn man sich erst einmal an die Armut und die vielen Bettler gewöhnt hat, geht es. Schon beim Anflug auf diese gigantische Metropole, mit nahezu zehn Millionen Einwohnern, sieht man das Ausmaß des Elends. Rund zwanzig Prozent der Bevölkerung lebt in Slums. Das ist aber nichts im Vergleich zu Mumbai, ehemals Bombay und Kolkata, wie das einst genannte Kalkutta jetzt heißt, wo rund vierzig Prozent in Slums leben. Krass ist der Gegensatz zwischen Armut und Reichtum. Diese Prunkbauten, das Rote Fort, die Jama Masjid Moschee oder der Hazrat Nizamuddin Dargha, einer der bedeutendsten Schreine des Sufismus und das Humayun Mausoleum, Dehlis erstem Mogul-Grab, mit dessen Bau man 1564, nach dem Tod des Zweiten Moguls, begonnen hat.«
»Ich dachte, du bist wegen des Eisenbahnwesens nach Dehli geflogen«, unterbrach ich Markus Bericht.
»Ja, klar, aber sie wollen ja mittels meiner Bücher Touristen anlocken. Da ist es selbstverständlich, dass ich in den Büchern auch über die Sehenswürdigkeiten schreibe«, klärte Markus mich auf.
»Wo hast du gewohnt?«, wollte Irene wissen.
»Sie hatten mich im Taj Palace untergebracht, einem Fünfsterne Hotel, mitten in einem 2,4 ha großen Garten gelegen. Wieder der Widerspruch. Luxus vom Feinsten, und sobald du das Gelände verlässt, siehst du der nackten Existenz ins Auge.«
»Belastet einen das nicht?« Ich war es, der das Wissen wollte. Markus nickte.
»Klar hat mich das belastet. Dass muss einfach jeden belasten, außer den Indern. Sie sind es gewohnt, kennen es nicht anders, und du darfst nicht vergessen, sie leben dazu auch noch immer in ihrem strengen Kastenwesen.« Markus erhob sich und ging zum Fenster, warf einen Blick nach draußen, schaute dann auf seine Uhr, bevor er sich uns zuwandte und sagte: »ich verstehe nicht, wo Josef bleibt. Er müsste doch längst da sein.« Umso erleichterter war er, als er kurz darauf hörte, wie ein Auto in unsere Einfahrt einbog.

Michael quengelte, als er, nach dem eh schon recht spät eingenommenen Abendessen, ins Bett sollte. Er hatte seine beiden Väter sehr vermisst. War er am Nachmittag nicht von Markus Seite gewichen, so saß er fast die ganze Zeit, seit Josef eingetroffen war, auf dessen Schoß. Nachdem es Markus und Josef gelungen war, den Jungen zu Bett zu bringen, saßen wir bei einem Glas Wein zusammen und hörten uns an, was Josef zu berichten hatte. Er machte schon den ganzen Abend einen geknickten Eindruck, und nun erfuhren wir, dass er am Vormittag, bevor er zu uns aufgebro-chen war, einen Besuch bei seinem Vater im Seniorenheim gemacht hatte.
»Papa war total verwirrt, ich glaube, er hat mich überhaupt nicht erkannt. Er erzählte ständig, dass Mama gleich vom Einkaufen zurückkäme«, verzweifelt sah er uns an. Markus versuchte ihn zu trösten und fragte, was denn das Pflegepersonal zu seinem Zustand sagen würde.
»Die Stationsleiterin war nicht da, sie hat über Ostern einige Tage Urlaub genommen. Der Pfleger, mit dem ich sprechen konnte, ist neu und kennt Papa kaum. Er meinte, Papa sei wie immer.« Das also war der Grund für Josefs Niedergeschlagenheit. Und dann musste ich ihm auch noch irgendwie schonend beibringen, dass der alte Weizmann offenbar wieder aktiv wurde, und wir uns Sorgen um Michaels Sicherheit machten. Unter diesen Umständen konnte ich auf die Befindlichkeiten meines Sohnes keine Rücksicht nehmen. Diese unangenehme Nachricht musste er verdauen, auch wenn ich es ihm gerne erspart hätte. Ich konnte Josef einfach nicht allein damit konfrontieren und es ihm überlassen, es Markus schonend beizubringen.
»Deine Mutter hat einen Brief aus Tel Aviv erhalten«, wandte ich mich an Markus. Doch bevor ich noch weitersprechen konnte, sagte Josef schon, dass er wisse, was darinstünde. Eli habe ihn am gestrigen Abend angerufen. Mehr brauchte er auch nicht zu sagen, Markus konnte man förmlich ansehen, wie er sich beherrschen musste, um nicht die Fassung zu verlieren.
»Hört das denn niemals auf?«, stöhnte er. Josef zog ihn in seine Arme.
»Beruhige dich, so schlimm ist es nicht. Elis Vater hat wieder versucht, Jemanden vom Mossad für seine Sache einzuspannen. Die haben aber momentan andere Sorgen, als sich um ein kleines Kind zu kümmern. Eli hat mir erzählt, dass einhundertfünfzig Beamte des Mossad frühzeitig den Dienst quittieren möchten, um gegen die geplante Anhebung des Renteneintrittsalters, von fünfundvierzig auf fünfundfünfzig Jahre, zu protestieren.
Außerdem haben sie alle Hände voll damit zu tun, die Palästinenser in Schach zu halten. Joschka war doch Anfang des Monats in Israel und hat die Regierung aufgefordert, sich für eine Zweistaatenlösung zu erwärmen. Danach hat er sich mit Jassir Arafat und Mahmut Abbas getroffen, um den Friedensprozess im Nahen Osten voranzutreiben.« Das hörte sich zwar wirklich danach an, dass die Jungs vom israelischen Auslandsgeheimdienst Wichtigeres zu tun hatten, als den Wünschen eines Chaim Weizmann nachzukommen, aber wirklich beruhigt waren wir nicht.

Viel zu schnell war das Osterfest vorbei und die junge Familie wieder zurück in Bayern. Am Ostermontag hatte ich Irene zum Essen in den Kaiserhof eingeladen. Als kleines Dankeschön und Entschädigung für die Stunden, die sie wieder in der Küche gestanden hatte, damit es uns gut ging. Während wir uns den zarten Lammrücken auf der Zunge zergehen ließen, formulierte ich den Gedanken, der mir schon seit einigen Tagen durch den Kopf ging.
»Könntest du dir vorstellen, deine Praxis früher als geplant aufzugeben, und nach Bayern zu ziehen?« Ich hatte das Gefühl, als kaue Irene besonders lange auf dem Stück Fleisch herum, dass sie gerade zu sich genommen hatte, als ich die Frage stellte. Schließlich legte sie ihr Besteck bei Seite, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und trank einen Schluck Traubenschorle. Dabei sah sie mich an und nickte leicht mit dem Kopf. Sollte das die Zustimmung sein? Ohne Gegenargument? Das konnte ich mir bei Irene nicht vorstellen.
»Ich kann mir vorstellen, was dir vorschwebt, aber hältst du das für die richtige Lösung?« meinte Irene. Also doch keine Zustimmung.
»Möchtest du dir Vorwürfe machen, nicht alles getan zu haben, um Michael zu schützen, wenn sie ihn doch kidnappen und nach Israel verschleppen?« Eine bessere Argumentation fiel mir nicht ein. Immerhin erreichte ich damit, dass Irene zusagte, darüber nachdenken zu wollen.